Von der Lügenpresse bis zur Protestkultur – die 68er haben der Rechten den Weg geebnet

Das Erbe der 68er: Wie die Rechte von der Revolte profitiert

von Gregor Leip (Kommentare: 4)

Frei und Freier© Quelle: Pixabay/Pexels

Die Ablehnung von Obrigkeitsdenken, die die 68er prägten, findet sich heute in der Skepsis gegenüber „Mainstream-Medien“ oder „Eliten“ bei rechten Bewegungen wieder. Der Slogan „Lügenpresse“ oder die Kritik an der „Systempolitik“ sind Aussteuergeschenke der 68er.

Die 68er-Bewegung, die in Deutschland vor allem mit der Studentenrevolte, der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und einer gesellschaftlichen Umbruchstimmung verbunden ist, wird aus rechter Perspektive oft kritisch betrachtet. Die 68er sind sogar das Feindbild schlechthin. Die Grünen, die Woken – alles Nachfahren und Erben der 68er.

Für Konservative und Rechte gelten die 68er als Ursprung allen Übels, als Hort einer links-liberalen Hegemonie, die zur Erosion traditioneller Werte, zur Entstehung einer „politisch korrekten“ Kultur und letztlich zu einer Vorstufe der heutigen „woken“ oder „grünen“ Ideologie geführt habe.

Dabei vergessen Rechte schnell, was sie selbst den 68ern zu verdanken haben. Rechte Aktivisten wie Martin Sellner und Verleger wie Götz Kubitschek arbeiten sogar intensiv mit den Techniken der 68er-Opposition und den Freiräumen, die damals geschaffen wurden.

Die positiven Aspekte der 68er-Bewegung lassen sich insbesondere im Hinblick auf die Befreiung aus beengten Verhältnissen, die Erweiterung der Meinungsfreiheit und die Ermöglichung einer Protestkultur identifizieren, die heute besonders intensiv von rechts genutzt wird. Die 68er haben selbstverständlich auch die Grundlage für die heutige Protestbewegung der Rechten gelegt.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er und frühen 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland waren geprägt von einem autoritären Konservatismus, einer maskenhaft erstarrten Orientierung an traditionellen Werten und einer nie hinterfragten ausgeprägten Hierarchie in Staat, Familie und Gesellschaft.

Der Wiederaufbau und die „Wirtschaftswunder“-Mentalität förderten zwar Stabilität, führten jedoch auch zu einer kulturellen und geistigen Enge. In Schulen, Universitäten und Familien herrschte ein strikter Gehorsam.

Das Wirtschaftswunder hieß deshalb „-wunder“, weil es die Deutschen selbst vielfach für ein Wunder hielten, dass sie nach den Verheerungen des Nationalsozialismus, des Krieges und Flucht und Vertreibung von vielen Millionen überhaupt so schnell wieder Butter auf der Stulle hatten und zudem – jedenfalls im Westen – Waren produzierten, die zunehmend auch im Ausland begehrt wurden. Jede Störung oder Grundsatzdebatte im Inneren wurde entsprechend als enormes Risiko verstanden.

Die „Kinderstube“ der Nachkriegszeit war geprägt von Disziplin, abweichende Meinungen wurden kaum toleriert.

Die Meinungsfreiheit war zwar im Grundgesetz verankert, aber in der Praxis stark eingeschränkt. Die Väter des Grundgesetzes hatten ein Ideal formuliert, das auch als Auftrag gemeint war. Die Leitplanken waren noch lange nicht gestellt. Auch die 68er waren hier die Baumeister! Wir kommen gleich noch dazu, warum die Dosis das Gift macht.

Deutschland war geteilt, der Kalte Krieg das bestimmende politische Thema. Die Adenauer-Ära war geprägt von einer klaren Abgrenzung gegenüber „staatsfeindlichen“ (oft linken) Positionen, was sich etwa in der Berufsverbotsdebatte oder der Verfolgung von Kommunisten zeigte. Gleichzeitig wurden kritische Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit häufig unterdrückt, dafür war keine Zeit, das Wiedererstarken Deutschlands stand auf tönernen Füßen, Millionen Landsleute waren auf nicht absehbare Zeit in der DDR eingesperrt. Niemand konnte ahnen, dass es vierzig Jahre dauern würde, das Land wieder zu vereinen.

Die populäre Kultur war in der Bundesrepublik von Spießbürgertum und Konformismus geprägt. Abweichende Lebensstile, sei es in der Mode, der Musik oder der Sexualität, wurden misstrauisch beäugt. Homosexualität war strafbar (Paragraph 175), und Frauen waren in vielen Bereichen auf traditionelle Rollen beschränkt, wer ein Bankkonto wollte oder einen Arbeitsplatz, musste den Ehemann um Erlaubnis fragen – heute sind das allenfalls noch Fantasien bestimmter Religionsvertreter in Deutschland.

Die Verhältnisse der 1950er und 1960er schufen eine Atmosphäre, in der nonkonforme Stimmen – ob links oder rechts – kaum Gehör fanden. Für die spätere rechte Kritik an der 68er-Bewegung ist es wichtig zu begreifen, dass diese Enge auch konservative oder nonkonforme Denker jenseits des linken Spektrums behinderte.

Die 68er-Bewegung war zunächst einmal Katalysator für gesellschaftliche Liberalisierung. In Teilen war es sogar eine libertäre Bewegung: Libertäre Forderung nach individueller Freiheit, in der Kritik an staatlicher Autorität, bei Forderungen nach Dezentralisierung und Basisdemokratie und sogar bis hin zur Ablehnung von Konsumzwang und Kapitalismus: Teile der 68er kritisierten den Kapitalismus aus libertärer Perspektive, da sie den Einfluss großer Konzerne und die Kommerzialisierung des Lebens als Einschränkung persönlicher Freiheit ansahen.

Aus rechter Perspektive lassen sich mehrere positive Entwicklungen identifizieren, die aus der 68er-Bewegung hervorgingen: Die 68er forderten eine freiere Diskussionskultur und setzten sich für das Recht ein, etablierte Autoritäten zu hinterfragen. Dies führte zu einer nachhaltigen Öffnung des öffentlichen Raums.

Die 68er kritisierten insbesondere auch die Konzentration der Medienmacht (z. B. den Axel-Springer-Verlag) und forderten eine diversere Berichterstattung. Dies führte langfristig zu einem breiteren Spektrum an Meinungen in den Medien, von dem heute auch die neuen Medien profitieren.

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Die 68er thematisierten Themen, die zuvor als tabu galten, wie die NS-Vergangenheit oder die Rolle der Kirche. Diese Offenheit machte es möglich, dass auch konservative oder rechte Denker ihre Kritik an der „political correctness“ oder der „Schuldkultur“ formulieren konnten, ohne sofort als Außenseiter abgestempelt zu werden.

Die 68er setzten sich für individuelle Selbstbestimmung ein, was auch aus rechter Sicht positiv bewertet werden kann: Die Bewegung lockerte traditionelle Geschlechterrollen und gesellschaftliche Erwartungen. Während dies aus rechter Perspektive oft als Verlust von Werten kritisiert wird, ermöglichte es auch Individuen, ihre Lebensentwürfe freier zu gestalten – ein Prinzip, das auch für konservative oder libertäre Rechte attraktiv ist.

Und besonders wirkmächtig: Die 68er etablierten eine Protestkultur, die heute von allen politischen Lagern genutzt wird. Die Massenproteste der 68er (z. B. gegen den Vietnamkrieg oder die Notstandsgesetze) stärkten das Demonstrationsrecht und machten Straßenproteste zu einem legitimen Mittel politischer Artikulation. Dies ist heute für rechte Bewegungen wie die AfD oder die „Querdenker“ von zentraler Bedeutung. Es gehört sicher zur Ironie der Geschichte, dass diese Rechte heute ausgerechnet von den Nachfolgern der 68er angegriffen werden. Und wieder: Die Dosis macht das Gift!

Die 68er förderten basisdemokratische Ansätze, die in den 1970er Jahren zu einem Boom von Bürgerinitiativen führten. Diese Form der direkten Demokratie wird heute auch von rechten Akteuren genutzt, etwa in der Kritik an Migration oder Klimapolitik.
Die Ablehnung von Obrigkeitsdenken, die die 68er prägten, findet sich heute in der Skepsis gegenüber „Mainstream-Medien“ oder „Eliten“ bei rechten Bewegungen wieder. Der Slogan „Lügenpresse“ oder die Kritik an der „Systempolitik“ sind in gewisser Weise ein Erbe der 68er.

Die 68er schufen die kulturellen und rechtlichen Voraussetzungen für eine Gesellschaft, in der nonkonforme Positionen – auch rechte – überhaupt erst artikuliert werden können.

Ohne die Liberalisierung der Meinungsfreiheit und des Demonstrationsrechts, die von den 68ern vorangetrieben wurde, wären Bewegungen wie Pegida oder die AfD in ihrer heutigen Form kaum denkbar. Die 68er haben die Schwelle für politischen Protest gesenkt.

Die 68er brachen mit der Konformität der 1950er Jahre und schufen eine Kultur, in der Abweichung von der Norm toleriert wird. Dies ermöglicht es rechten Akteuren, ihre Kritik an der „politischen Korrektheit“ oder der „Multikulti-Ideologie“ offensiv zu formulieren.
Rechte Bewegungen haben die Methoden der 68er – etwa den Einsatz von Provokation, Medienkampagnen oder basisdemokratischen Strukturen – übernommen. Rechte Akteure wie die „Identitäre Bewegung“ setzen bewusst auf die Ästhetik und Taktik der 68er, etwa durch Flashmobs (Sit-Ins) oder symbolische Aktionen.

Ein prominentes Beispiel ist die AfD, die in ihrer Frühphase von der Protestkultur profitierte, die die 68er etabliert hatten. Die Partei nutzte die Freiräume der Meinungsfreiheit, um ihre Positionen zu verbreiten, und bediente sich einer antiautoritären Rhetorik („gegen das System“), die an die 68er erinnert. Ebenso nutzen rechte Influencer auf Plattformen wie X die von den 68ern erkämpften Freiräume, um ihre Botschaften zu verbreiten.

Natürlich ändert dieser Blick auf die 68er nichts daran, dass, was als Befreiung begann, aus rechter Sicht in eine neue Form der Bevormundung mündete, etwa durch „politische Korrektheit“ oder die Dominanz linker Narrative in Medien und Bildung.
Natürlich trugen die 68er zur Erosion traditioneller Werte wie Familie, Nation oder Religion bei.

Und zweifellos haben die 68er eine kulturelle Hegemonie der Linken etabliert, die es rechten Positionen erschwert, Mehrheiten zu gewinnen. Aber es macht sich zu einfach, wer bestreitet, dass die 68er notwendig waren, um die Enge der Nachkriegszeit aufzubrechen. Ihre Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Protestkultur, individuelle Freiheit – sind auch für die Rechte von Nutzen.

Das Problem liegt in der Übersteigerung und Vereinnahmung dieser Errungenschaften durch linke Ideologien. Dass es andersherum ebenso schiefgehen kann, müssen die Konservativen nicht mehr unter Beweis stellen: Dass die 68er überhaupt notwendig wurden, lag auch daran, dass die Räume so eng waren, dass von individueller Freiheit und Selbstbestimmung keine Rede mehr sein konnte. Rechte sollten also auch argwöhnisch in die eigenen Reihen schauen, wo Freiheit angegriffen wird.

Auch für Konservative und Rechte sollte uneingeschränkt gelten: „Freiheit beginnt mit der Freiheit des Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg).

Last, but not least: Rainer Langhans wird heute 85. Wir gratulieren herzlich!

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