Der Aufstand von Prigoschins Wagner-Truppen

Das System Putin hat vorerst gewonnen

von Wolfgang Brümmer (Kommentare: 9)

Es ist tragisch, dass Putin die große Aufgabe der Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen in seiner Amtszeit nicht aufgenommen hat.© Quelle: YouTube/ SpiegelTV Screenshot

Aus der Auseinandersetzung mit Prigoschin geht Putin gestärkt hervor. Anders als das westliche Establishment es sich einredet.

Der russische Angriff vom 24.Februar 2022 auf die Ukraine, der von den überheblichen westlichen Politikern und Leitmedien zu Beginn als in wenigen Wochen für erledigt erklärt worden war (Wie es der global gehörte Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in einem Artikel im März 2022 vorgedacht hatte, nach dem Motto: Putin binnen Wochen besiegen und dann verhandeln), hat sich zu einem veritablen Krieg zwischen Nato und Russland via eines Stellvertreters Ukraine ausgewachsen.

Dabei ist aus einer Reihe von Gründen das Phänomen der russischen „Fremdenlegionen“, sprich der Privatarmeen, im Prinzip outgesourcte Kampfeinheiten, die oft wirksam, aber vor allem auch werbewirksam ins Kriegsgeschehen eingreifen, zentral in die Öffentlichkeit gerückt. Es soll in Russland bis zu 40 Privatarmeen geben, darunter die „Patriot“ genannten Truppen unter Verteidigungsminister Shoigu, die Privatarmee „Achmat“ des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow und eben die Wagner-Gruppe von Jevgeni Prigoschin. Auch Gazprom soll eine oder mehrere Privatarmeen haben.

Mehr als nur Wagner-Gruppe: Das sind Russlands Privatarmeen im Ukraine-Krieg - FOCUS online

Die Vorteile solcher sich einer soliden staatlichen Kontrolle besser entziehen könnenden Kampfeinheiten liegen in einem Krieg, je schmutziger er wird, auf der Hand. Die Nachteile liegen allerdings ebenfalls auf der Hand: Rivalitäten, ausbleibende Synergien, Verrohung und das Entstehen von Partikularinteressen und darüber hinaus eine Entfernung vom Kriegs-und Völkerrecht. Sowie menschenrechtliche Entgleisungen, die niemand unter Kontrolle bringen kann. Und ein Herauswachsen aus der Zentralkontrolle der Militärführung.

Die Franzosen haben mit ihrer legendären Fremdenlegion in ihrem Indochinakrieg (Vietnam) am Ende Schiffbruch erlitten. Putin hat sich im Ukrainekrieg besser geschlagen, als der arrogante und etwas hybride Westen es zunächst für möglich hielt. Wahrscheinlich hat der Westen nie verstanden, was es wirklich in letzter Konsequenz heißen kann, mit einer so durablen Nuklearmacht wie Russland überhaupt einen heißen Krieg zu führen.

Putins aktueller Strategiewechsel

Putins aktueller Strategiewechsel, die unartigen Soldateska-Gruppierungen heim ins russischen Militär zu holen und sie dem Verteidigungsministerium zu unterstellen und auf irgendeine Art auch zu legalisieren – alle ca. 40 Privatarmeen sollen am 1. Juli 2023 ihre Unterschrift dazu gegeben haben – wird nach Meinung des Autors von Erfolg gekrönt sein.

Prigoschin mit seiner Wagner-Gruppe hatte jedoch auf den letzten Drücker einen Ausreißversuch unternommen, mit dem sich die westliche Weltöffentlichkeit überdimensional mit Hoffnungen, Wünschen, Spekulationen, Legenden und einer riesigen im Gleichschritt tickenden Talkshow- und Interview-Industrie seit einer Woche beschäftigt – mit erstaunlich wenig Faktenwissen.

Seit einer Woche wird das Narrativ bedient, dass Prigoschins versuchter „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau, den Prigoschin wenige Stunden später für Straffreiheit und ein Ticket nach Weissrussland abbrach, Putin „geschwächt“ habe. Und so geht es weiter: Der „Anfang vom Ende Putins“ sei gekommen, das „System Putins“ würde ins Wanken geraten, Putin hätte eine Schmach durchlitten, die Zügel aus der Hand verloren, usw. usw. Wobei jeder Experte noch im selben Atemzug betont, dass allerdings von den „Rissen“ im System Putins noch nichts zu sehen ist.

Und dass Putin nicht sofort der totale Machtverlust drohe. Eine Art illusorisches Wunschdenken, dass der weit überschätzte Wagnerchef in seiner Kamikaze-Aktion Putin entmachten und der Ukraine de facto zu einem Sieg verhelfen könnte, hatte die Köpfe vernebelt. Viele Sendungen sind in den letzten Tagen zu Klatsch-und Tratsch-Veranstaltungen geworden, selbstverständlich auf höchstem Niveau.

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Putin ist gestärkt

Inzwischen ist man schon etwas nüchterner geworden. Dass Putin viel wahrscheinlicher durch den Hasardeur Prigoschin und dessen offenkundig sehr unüberlegte Aktion gestärkt hervorgegangen ist, wird kaum öffentlich gesagt. Man könnte es auch so sehen: Putin ist es gelungen, einem durchscheinenden Kontrollverlust – Einnahme der militärischen Kommandozentrale für den Ukrainekrieg in Rostow durch Wagnertruppen, Panzer vor Moskau und den Abschuss einiger russischer Hubschrauber und lautstarkes Säbelrasseln – immerhin innerhalb von Stunden die Spitze abgebrochen und den Konflikt unblutig beendet zu haben.

Prigoschin hat seinen Marsch abgebrochen, das Angebot, nach Weissrussland auszufliegen, und die angebotene Straffreiheit für sich und seine Armee akzeptiert. Es ist Putin offenbar gelungen, ihm in kürzester Zeit klar zu machen, dass er keinerlei militärische Aussicht hatte, in Russland einen erfolgreichen Putsch durchzuführen, und auch keinerlei Aussicht hatte, Verbündete zu finden. Mit extremen Drohungen seitens Putin in seiner Rede am Samstagmorgen und extremer Verhandlungsbereitsschaft am Nachmittag ist Putin de facto als Sieger aus der Auseinandersetzung herausgegangen. Keine der Forderungen von Prigoschin, den Verteidigungsminister Shoigu oder andere Militärführer abzusetzen, wurden von Putin erfüllt.

Und Prigoschin eierte gleich am nächsten Tag herum, dass er ja auch gar nicht wirklich Böses gegen Putin im Schilde geführt habe. Putin steht im Ukraine-Krieg vor dem Putschversuch nicht anders da als danach. Und es ist Putin gelungen, weitere Nachahmer und Trittbrettfahrer gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen zu lassen.

So gesehen darf sich die Ukraine nicht zu früh freuen. Die Umstrukturierungen des russischen Kampfapparates werden weitergehen und könnten kurzfristig die Effizienz der russischen Armee steigern. Die Rekrutierung von Söldnern auf Privatbasis hatte Putin bisher von einer Generalmobilmachung bewahrt. Sie wird jetzt, wenn die Integration der Privatarmeen einigermaßen gelingen sollte, auch weiterhin nicht nötig sein. Die Söldner bekommen einen öffentlichen Rechtsstatus, sie werden allem Anschein nach gut bezahlt und erwerben Rentenansprüche.

Putin fährt einen Kurs der Annäherung an China, Indien, Südafrika und andere Staaten, verkauft sein Gas, und wird immer resistenter gegen westliche Sanktionen, die den Westen allerdings Geschäft kosten.

Und der Ukrainekrieg?

Die westlichen Politiker und Medieneinschätzer reden stupide weiterhin von Waffen und Waffensystemen, die der Ukraine zum Sieg gegen Putin verhelfen sollen. Über die täglich sterbenden Menschen auf beiden Seiten wird inzwischen überwiegend geschwiegen. Und von den realen Chancen für die Ukraine, diesen Krieg zu „gewinnen“ – wie genau dieser Sieg auch immer aussieht – wird noch weniger geredet, weil die Kriegssituation festgefahren ist.

Und noch schlimmer: Die westliche Führung, die mit Putin erst verhandeln wollte, wenn Putin besiegt ist (Stand aus März 22), und das Mantra ständig wiederholt, dass es allein Putin gewesen sei, der nie verhandeln wollte, ist auf einem sehr blutigen Scherbenhaufen gelandet. Das Hauptargument des Autors dieses Textes, dass vor allem Joe Biden selber seit 1 ½ Jahren gefordert ist, mit Putin in Verhandlungen zu treten, wird seit Beginn des Krieges als Chance nicht erkannt und abgetan: Putin ist der Schuldige und also muss er einfach aufgeben, sich vor ein Kriegsgericht stellen und alles wäre gut. Doch das scheint etwas irreal.

Putin ist der Aggressor. Putin redet vor allem historisch katastrophalen Unsinn. Und Putin hätte die Ukraine unter keinen Umständen angreifen dürfen. Sein rechtfertigender Rückgriff auf die Geschichte ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Die Ukraine gehört nicht zu Russland.

Angesichts des Massen-und Völkermordes an den Ukrainern in Zeiten der Sowjetunion, und wir sprechen hier über ungefähr 20 Millionen ermordete, verschleppte und dann ermordete Ukrainer (Kulaken) und systematisch in den Hungertod (Holodomor) getriebene Ukrainer (1930 ff), ein Völkermord, den Russland bis heute nicht anerkennt, kann es nicht sein, dass Putin Ansprüche auf die Ukraine überhaupt nur andenkt.

Die Völkermorde der Sowjetunion wurden auch im Westen jahrzehntelang totgeschwiegen

Übrigens erkennt die Bundesrepublik den Völkermord an der Ukraine seitens der Sowjetunion, zu der Ukraine damals gehörte, der von der gesamten westlichen Linken jahrzehntelang geleugnet und verschwiegen oder anderen in die Schuhe geschoben wurde, auch erst seit ein paar Monaten (!) offiziell an.

Viele Menschen im Westen wussten bis zu Putins Einmarsch in die Ukraine erschütternd wenig über die Völkermorde Lenins und Stalins von 1918 bis 1953 (Tod Stalins) und darüber hinaus, systematisch und millionenschwer. Sie wissen erschütternd wenig von dem berühmtem „Archipel Gulag“, dem Bestseller-Buch über das Lager-und Mordsystem der Sowjetunion von dem Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, das man aber kennen muss, um zumindest ein wenig von der Geschichte des letzten Jahrhunderts und den sowjetischen Völkermorden zu verstehen.

Es ist tragisch, dass Putin die große Aufgabe der Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen in seiner Amtszeit nicht aufgenommen hat. Umkehrt kann der Westen nicht mythologisch überhöht Putin indirekt für all die Verbrechen der Sowjetunion verantwortlich machen, die im Westen selber systematisch verdrängt und kleingeredet wurden. Auch der Westen muss in Sachen Ukraine bei der Realpolitik von 2023 bleiben. Und vor allem muss der Westen sich eine neue Politik überlegen, eine neue politische Strategie finden, was er beitragen kann, diesen Krieg zu beenden.

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