Die Verschiebung des Unsagbaren

Deutschlands langer Weg in die Kriegsbereitschaft – Vom Pazifismus zur Kriegsmaschine

von Gregor Leip (Kommentare: 7)

Eine Zeitenwende für ein Volk ohne Geschichte© Quelle: https://www.kollwitz.de/plakat-nie-wieder-krieg, Screenshot

Vom „Nie wieder Krieg“ zur Kriegsbereitschaft: Wie Deutschland seine pazifistische DNA ablegt und die Zeitenwende die Grundfesten der Nachkriegsgeneration erschüttert.

„Nie wieder Krieg“ ist in Deutschland in Gestalt einer Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grundrecht (Artikel 4 Absatz 3) festgeschrieben.

Knapp zweitausend Kilometer Luftlinie entfernt tobt seit über drei Jahren ein menschenfressender Krieg zwischen den Bruderländern Russland und Ukraine. Mindestens ebenso weit hat sich eine deutsche Nachkriegsgeneration von der tief verankerten Gewissheit „Nie wieder Krieg“ und „Keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete“ entfernt und alle Sicherungsseile gekappt.

Am Anfang dieser Entwicklung stand das Ausrufen der „Zeitenwende“ durch Olaf Scholz und eine Grundsatzrede der damaligen Verteidigungsministerin Lambrecht. Das war der Beginn einer neuen deutschen Rechtfertigungskultur für eine Unterstützung oder Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen.

Die zweite Präsidentschaft Trumps und seine Infragestellung der USA als automatisches Schutzschild über Europa lösten ein neues europäisches Sicherheitsdenken aus, das in dem Verlangen mündete, militärisch aufzurüsten.

Im September 2022 hielt die damalige deutsche Verteidigungsministerin eine „Grundsatzrede zur Sicherheitsstrategie“. Christine Lambrecht erklärte unter anderem:

„Aber heute gilt: Das Deutschland, das diese Verbrechen begangen hat, gibt es seit beinahe 80 Jahren nicht mehr. Die Bundeswehr ist eine Armee, die mit der von damals nichts gemein hat.“

Und weiter:

„Lassen Sie mich das deutlich sagen: Allein mit Bedächtigkeit, allein mit dem Rückgriff auf bewährte bundesrepublikanische Traditionen werden wir in Zukunft nicht mehr sicher leben können. Mit unseren alten Selbstbildern ist die Zukunft unserer Kinder und Enkel in Frieden und Freiheit nicht mehr zu garantieren.“

Und noch ein Ausschnitt der Lambrecht-Rede:

„Wir hatten uns daran gewöhnt, unsere Streitkräfte ausschließlich als Akteur bei Kriseneinsätzen im Ausland oder in der Amtshilfe – Corona, Hochwasser, Waldbrände – wahrzunehmen. Diese Zeit ist vorbei. Wir müssen die Bundeswehr wieder als zentrale Instanz für unsere Daseinsvorsorge betrachten. Und zwar jeden Tag.“

Diese medial wenig beachtete Rede markiert einen fundamentalen Wendepunkt im deutschen Denken der Nachkriegsgenerationen. Hieß es für Generationen von Schülern und Studenten immer, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Vorbereitung eines Angriffskrieges (Artikel 26) untersagt und Deutschland sich für eine friedliche Außenpolitik engagiert und die multilaterale Zusammenarbeit unterstützt, um Konflikte friedlich zu lösen, so steht besonders der Ausruf des Verteidigungsministers Pistorius am 04. Juni 2024 im Bundestag im krassen Gegensatz dazu:

„Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“

Wir nachfolgenden deutschen Generationen sind nicht für das verantwortlich, was geschah, aber dafür, dass es nicht wieder geschieht (zitiert nach Max Mannheimer).
Christine Lambrecht erteilte den Deutschen eine Absolution. Das Deutschland, das die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus begangen hat, gäbe es seit beinahe achtzig Jahren nicht mehr. Die Bundeswehr sei eine Armee, die mit der Wehrmacht nichts gemein habe.

Aber Politik muss sich am Recht orientieren. Das Recht darf nicht gebeugt werden. Bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus am 25. Januar 2025 im Deutschen Bundestag sagte Bundespräsident Steinmeier:

„Die Shoah ist Teil unserer Identität.“ Und: „Es gibt kein Ende der Erinnerung.“

Ginge es nach Lambrecht und mit Blick auf die aktuelle Krise im israelisch-palästinensischen Krieg, dann führte das dazu, dass wir diese von Steinmeier als Teil unserer Identität bezeichnete DNA ablegen, und ab heute gelten kann, was Lambrecht sinngemäß für die deutschen Soldaten forderte: „Wir haben damit nichts mehr gemein.“

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Steinmeier weiter:

„Die Zeit ändert nichts daran, was geschehen ist. Die historische Wahrheit lässt sich eben nicht wegpacken! Wir müssen uns dieser Wahrheit immer wieder von Neuem stellen. Und wir dürfen nicht darin nachlassen, sie den Nachkommenden weiterzuerzählen.“

Wenn das, was der Bundespräsident hier erklärt, weiter für alle Deutschen Gültigkeit hat – wenn! –, dann muss das zwangsläufig auch für die deutsche Staatsräson „Nie wieder Krieg“ gelten. Die Bundesrepublik ist als ein zutiefst pazifistischer Staat angelegt worden.

Aber schon zehn Jahre nach Kriegsende wurde die Wiederbewaffnung beschlossen. Dieser Akt war von Protesten begleitet. Notgedrungen waren die Vorgesetzten aller Führungsebenen auch mit Offizieren der Wehrmacht besetzt. Inklusive ehemaliger überzeugter Anhänger des NS-Regimes. Die Online-Enzyklopädie schreibt dazu:

„Im Jahre 1959 waren von 14.900 Bundeswehroffizieren 12.360 bereits in der Reichswehr oder Wehrmacht zu Offizieren ernannt worden, 300 Offiziere entstammten der Waffen-SS.“

Das Kriegsgeschrei der Grünen ist heute besonders laut. Und es war ihr damaliger Außenminister Joschka Fischer, der als treibende Kraft den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr befürwortete und den Einsatz im Kosovo unter anderem mit folgenden Worten rechtfertigte:

„Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.“

Der erste deutsche Kriegseinsatz begann mit einer grünen Relativierung des Holocaust, als Fischer die Überzeugung äußerte, der Serbe Milošević wolle ein neues Auschwitz, das es nun zu verhindern gelte.

Brigadegeneral Heinz Loquai merkte damals zu den Vergleichen Fischers an:

„Hier muss ich mich wirklich beherrschen, weil der Vergleich mit Auschwitz und der Situation im Kosovo eine ungeheuerliche Behauptung ist. Man muss sich als Deutscher schämen, dass deutsche Minister so etwas getan haben, denn ein normaler Mensch, ein normaler Deutscher, wird vor Gericht zitiert, wenn er in derartigem Ausmaße Auschwitz verharmlost.“

Es gab sie also damals noch: Deutsche Militärs, die sich ihrer Verantwortung in einem Deutschland bewusst waren, das sich „Nie wieder Krieg“ als Staatsräson auf die Fahnen geschrieben hatte.

Wer von einer „Zeitenwende“ spricht und diese den Deutschen verständlich machen will, muss notwendigerweise daran appellieren, auch die Zeit dafür zu begreifen, zu verstehen, was zur DNA der Bundesrepublik gehört. Die Zeitenwende spekuliert jedoch auf ein Vergessen. Sonst könnte es sie gar nicht geben.

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