Wir alle kennen das: Man diskutiert mit Argumenten über dieses und jenes. Positionen werden ausgetauscht. So wird aktuell vielfach Strukturkritik geübt an der EU mit ihrem großen Parlament und den unfassbar vielen (vierzehn an der Zahl) EU-Vize-Parlamentspräsidenten.
Bleiben wir mal dran: Es gibt gute Argumente, die Macht der Nationalstaaten nicht weiter zu beschneiden. Ich bin sogar für einen Rollback bei der Machtabgabe an die EU.
Dass England sich letztlich für einen Austritt entschieden hat, ist symptomatisch und traurig. Wer das nicht mit allen Sinnen wahrnimmt, lügt sich in die Tasche.
Aktuell haben wir viele Menschen, die in die EU drängen – auch ohne die ukrainischen Flüchtlinge. Eigentlich sollte man doch erst mal die vielen Menschen, die bereits hier sind, integrieren – bzw. sollten diese mit gutem Willen auch an ihrer Integration mittun („mittun“ hört sich für mich gerade zu sozialdemokratisch an), bevor man weitere empfängt und einlädt.
Gerne argumentiere ich auch strikt gegen die vermeintlichen „Seenotretter“-NGO-Schiffe, die Flüchtlinge zwingend in einen „sicheren Hafen“ nach Europa bringen, anstatt den sicheren Hafen in Afrika zu wählen und sie ungefähr dorthin zurückzubringen, wo sie in See stachen.
Menschen in Seenot müssen gerettet werden, ganz gleich, wie sie in diese Situation gekommen sind. Aber der Pull-Effekt muss verringert werden, um gegen das miese Schlepper-Geschäft zu agieren, um überhaupt die illegale Migration einzudämmen. Nicht um unmenschlich oder unweihnachtlich zu agieren, sondern aus den genannten Gründen.
Neulich schrieb jemand zu meiner Kritik: „Dies oder das hat doch aber auch XY so ähnlich vertreten und der hat mal früher dies oder das gemacht … Oder: „Mein Herr, sie haben Schnittmengen mit …“
Oder es wird angeführt, dass diese oder jene Überlegung auch in einer Partei vertreten wird, wo jemand auch mal … Oft geht ab diesem Punkt gar nichts mehr weiter. Die Diskussion friert ein.
Ich frage mich oft, wie lange man eigentlich Sünden aus der Vergangenheit immer wieder heraussuchen, anprangern und anklagen will. Ich hatte das doch gerade im linksliberalen Milieu, in dem ich sozialisiert wurde, gelernt, dass man zweite Chancen geben sollte, vielleicht auch mal dritte.
Resozialisierung im politischen Bereich scheint nicht gewollt. Aussätzige bleiben Aussätzige. Und oft genug sind ihnen auch Dinge unterstellt worden, die sie so nie gesagt haben und die jetzt an ihnen haften – wie Tretminen.
Das macht natürlich auch etwas mit denen, die wieder dabei sein wollen, die auch als salonfähig akzeptiert sein möchten. Aber so einer Perspektive beraubt, sehen viele zu Recht keinen Sinn mehr darin, weiter fair zu formulieren und seriös zu argumentieren. Ich kann das nachvollziehen.
Und um auf „Jugendsünden“ zu sprechen zu kommen: Ich würde mich freuen, wenn man einige meiner Ergüsse aus Jugend- aber auch junger Erwachsenenzeit, in der ich auch gern mal übergeschnappt und auch naiv war, heute nicht gegen mich verwenden würde.
Mann, war ich peinlich, konkret, dumm. Aber natürlich gehört das zu mir. Ich verzeihe mir das. Es gibt so einen Spruch, der in etwa lautet: mit 17 war ich idealistisch und ideologisch links, mit 30 realistisch mittig und mit über 50 wurde ich konservativ … oder so ähnlich.
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Es kann auch sein, dass man als Jugendlicher eher idealistisch rechts war. Entwicklung, Reifeprozess, Lebenserfahrung. Man war noch nicht so weit. Man konnte noch nicht so gut von hier bis an die Wand denken. Ich jedenfalls.
Und wenn ich mir das heute verzeihe, möchte ich das auch anderen verzeihen.
Ich bin Musiker: Wenn ich die Texte lese, die ich in meiner Schulbandzeit wagte zu singen … aua. Obwohl auch das Wort „Gesang“ beim Durchhören alter Live-Aufnahmen von mir eher eine Fehleinordnung ist. Schreien, Jaulen, ja quaken und bellen trifft es leider eher. Aber es ist ok. Es war ja nicht böse gemeint.
Ich kenne auch das Phänomen der Beratungsresistenz. Vielleicht könnte ich aufgrund dieser Überlegungen milder im Urteil gegenüber Jüngeren sein, die beispielsweise über „alte weiße Männer“ hetzen und lästern oder Mitmenschen nötigen, irgendwo im Stau zu stehen oder den Abbruch eines Landeanflugs verursachen.
Aber wo ist der rebellische Moment bei diesen Leuten? Die schwimmen vielfach mit dem Strom und sind konformistisch. Die wirken auf mich, wie von rot-grünen Lehrern in Dekaden auf Kurs programmiert und vom Öffentlich-Rechtlichen, am besten mit den Youtube-Formaten von „Funk“ oder Sendungen wie „Neo-Magazin-Royal“ erzogen.
Aber hey, es ist Adventszeit: Und genauso, wie ich manchen gehirngewaschenen Panikklebern verzeihen will und auf Besserung hoffe, mahne ich bei überstrengen Nichtverzeihern bzgl. Jugendsünden politischer Protagonisten der Rechteren auch eine faire Sichtweise an.
Und nein – genauso wenig, wie ich verlangen kann, dass Übertreiber nach Läuterung zwingend zu Kreuze kriechen, ist eine unterwürfige und demütigende Selbstanklage bei vormals zu Extremen neigenden Menschen meiner Ansicht nach auch keine Pflichtübung.
Ich möchte die Hand ausstrecken und möchte, dass viele andere auch ihre Hände ausstrecken. In Deutschland und Europa sollten wir uns nicht gegenseitig fertigmachen, sondern versuchen, Gräben zu schließen.
Ich möchte die Politiker an dem messen, für das sie heute stehen. Die Verjährungsfristen im Bürgerlichen Gesetzbuch wurden durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts 2002 auf drei Jahre gekürzt, von vormals dreißig Jahren.
Wir sollten uns auch in der politischen Schuldverteilung ungefähr an diesen drei Jahren orientieren! Mut und Größe zu weniger Schuldzuweisung. Das würde uns allen gut tun. Ich möchte mit allen, die sich heute zu unseren Gesetzen und zu unserer Demokratie bekennen, fair streiten und sprechen.
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Kommentar von Jan-Heie Erchinger
Vielen Dank für die Kommis... Für das Lob von Ulrike Stallbörger, aber auch die deutliche Kritik der anderen.
Ich möchte einfach nicht zu pessimistisch sein. Gerade im direkten Kontakt auch mit politisch anders Tickenden als ich es bin, habe ich viel Gutes und viel gegenseitiges Verständnis erlebt.
Ich bin selbst auch Teil des Austeilens und Zuspitzens im Netz - freue mich aber auch bei Deeskalation - das würde mich auch im Verhältnis Westen - RU freuen.
Letztlich ist hier vielleicht ein Missverständnis passiert und deswegen kommt teilweise, oder hier 3/4 Ablehnung:
Mir ging es vor allem darum, die ´Gut(en) Menschen und politisch Etablierten anzusprechen, doch beispielsweise auch Protagonisten mit rechterer Gesinnung vermeintliche Sünden in der Vergangenheit zu verzeihen - oder eben als verjährt anzusehen.
Noch dazu wird so viel Hörensagen und Lästerei fabriziert, ich bezweifle auch dass alles stimmt!
Ich bin wirklich der Meinung dass wir unter den vermeintlichen Lagern mehr sprechen und letztlich auch zusammen arbeiten müssten, damit es bei uns im Lande NICHT zu stark eskaliert.
Ganz besonders hoffe ich, dass die Union endlich auch für Koalitionen mit der AFD offen wird, besonders in Ostdeutschland.
Die ewige Unterstellung, hier dominierten quasi Rechtsextreme ist unterkomplex, destruktiv und undemokratisch.
Wichtig: in allen Parteien gab es schwarze Schafe: Bastian killte Petra Kelly bei den Grünen - bei den Sozialisten
der EU haben wir jetzt eine griechische Korruptionsverdächtige - bei der Union gab es freche Parteispenden, die Helmut Kohl quasi mit ins Grab nahm - bei der FDP suizidierte sich Möllemann - aus Gründen?!
Also - aufeinander zugehen würde ich mir wünschen!
Peace!
Herzliche Grüße, Ihr Jan-Heie Erchinger
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Kommentar von ARo61
Eine „ausgestreckte Hand“, die mich in den morastigen Abgrund ziehen will, ist eher nicht so „mein Ding“. Oder soll das ein neues Weihnachtslied werden ? Together im „Scheissehaufen“? (frei nach Böhmermann)
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Kommentar von Ulrike Stallbörger
Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich persönlich wünsche mir mehr Texte, in denen die "ausgestreckte Hand" Einzug hält.
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Kommentar von Hildegard Hardt
Ich lese Ihre Artikel gern, denn sie haben so etwas menschliches an sich. Aber man kann es auch übertreiben. Nach Ihrer Theorie müßte man dann auch einem Vergewaltiger (alexander-wallasch.de berichtete) die Hand reichen. Aber dazu bin ich bei aller Toleranz nicht bereit.
Und fair streiten macht leider schon gar keinen Sinn! Fairness ist zum Unwort verkommen; man muß nur mal die Debatten im Bundestag verfolgen.
Zum bevorstehenden Weihnachtsfest wünsche ich Ihnen ein bißchen weniger Naivität. Wir haben schon genug Menschen (Politiker!), die im Wolkenkuckuckheim leben. - Bitte nichts für ungut!
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Kommentar von Heike Olmes
Ich bin fassungslos, wie naiv Sie argumentieren und formulieren. Aber hey, es ist Adventszeit und ich verzeihe Ihnen, wenn Sie bei Ihrem Metier bleiben und sich mit friedlichen Weihnachtsliedern beschäftigen.
Antwort von Alexander Wallasch
ein Wort aus Netiquette gelöscht, danke für Ihr Verständnis!