Wie schaffen es Narrative, zum Glaubenssatz einer ganzen Nation zu werden?

Die Twitter-Files 17: Überwachung öffentlicher Meinungsäußerungen in den USA

von Tara Grimm (Kommentare: 4)

„Der ganze Mist, den wir seit dem Kalten Krieg in anderen Ländern abgezogen haben, wurde nun durch die Entscheidung von irgendwelchen Idioten zu uns nach Hause gebracht.“© Quelle: Pixabay / geralt / Jarmoluk, Montage Bertolt Willison

Gäbe es eine Hitliste der in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte am häufigsten verwendeten Worte, würde der Begriff „Narrativ" zweifellos auf einem der oberen Plätze zu finden sein.

Dabei handelt es sich um ein Informationskonstrukt, welches nicht nur eine gewünschte politische Haltung postuliert, sondern auch Emotionen transportiert, die im jeweiligen Zusammenhang hilfreich sind.

Zu den beliebten, weil äußerst effizienten Emotionen gehört die Angst. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart gibt es unzählige Beispiele, die das perfekte Zusammenspiel von behaupteter Realität und verstärkendem Gefühl belegen.

Das im März 2020 geleakte geheime Strategiepapier aus dem Bundesinnenministerium zur "Eindämmung der Corona-Pandemie", in dem offen kommuniziert wurde, dass eine "Schockwirkung erwünscht" sei, ist an Unverhohlenheit und gezielter Manipulation nur schwer zu überbieten.

Aber wie schaffen es solche Narrative, zum Glaubenssatz einer ganzen Nation zu werden? Wie entfalten sie ihre breitenwirksame Schlagkraft? Ist es ausreichend, dass beispielsweise ein reicher Philanthrop dem "Spiegel" ein paar Millionen in die klammen Taschen spült? Oder sind diese lediglich das Sahnehäubchen auf viel tiefer liegenden Strukturen, welche bereits vor längerer Zeit eingerichtet wurden?

Am Beispiel „USA“ geht Matt Taibbi dieser Frage im 17. Kapitel der am Donnerstag veröffentlichten Twitter-Files nach.

Der 50teilige Thread unter der Überschrift "Neue Erkenntnisse, das Global Engagement Center und staatlich finanzierte Schwarze Listen" befasst sich zunächst mit einer Liste von 40.000 Accounts, welche der Twitter-Zentrale vom Digital Forensic Research Lab des Atlantic Councel im Juni 2021 zur Überprüfung übersandt wurde.

Die genannten Twitter-Nutzer wurden des „unauthentischen Verhaltens“ beschuldigt sowie des Verdachts, „bezahlte Angestellte oder mögliche Freiwillige“ der indischen Bharatiya Janata Partei (BJP), also Vertreter einer angeblich nationalistischen, hinduistischen Bewegung zu sein. Wie Taibbi unter den Punkten 3 bis 5 aufzeigt, befanden sich auf der Liste allerdings jede Menge gewöhnlicher Amerikaner, die "keinerlei Verbindung zu Indien und keine Ahnung von indischer Politik" hatten. Das Twitter-Management erkannte dies, weshalb die Mehrheit der Accounts online blieb.

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Dieses absurde Beispiel für eine fast schon paranoid erscheinende Zensurpraktik dient Taibbi jedoch lediglich als Einstieg in das weite Feld der Überwachung von öffentlichen Meinungsäußerungen durch Organisationen, die sich als unabhängig ausgeben, in Wahrheit aber staatlich gesteuert werden.

So auch im Fall des Digital Forensic Research Lab (DFRLab). Dieses werde, schreibt Taibbi unter Punkt 7, durch die US-Regierung finanziert, speziell über das Gobal Engagement Center (GEC). Graham Brookie, der Direktor des DFRLab, würde zwar bestreiten, Steuergelder zur Überwachung von US-Bürgern zu verwenden, und darauf verweisen, das GEC garantiere „eine ausschließlich internationale Ausrichtung", doch die Praxis sähe anders aus.

Wie Taibbi unter Punkt 9 aufzeigt, wird das GEC stets als Behörde des Außenministeriums ausgewiesen. In Wahrheit sei es jedoch eine „ressortübergreifende Gruppe ,innerhalb' des Staates, zu deren ursprünglichen Partnern das FBI, das Heimatschutzministerium, die NSA, die CIA, DARPA, das Kommando für Spezialoperationen (SOCOM)“ und andere bundesstaatliche Agenturen zählen.

Auch die Ausrichtung der Aufgabenstellung des GEC verdient eine genauere Betrachtung. Wie Taibbi unter Punkt 10 zitiert, besteht der Auftrag des GEC darin, „ausländische ... Desinformation zu erkennen, zu verstehen, offenzulegen und dieser entgegenzuwirken."

Oberflächlich gesehen, würde dies mit der Mission übereinstimmen, welche von der Vorläuferorganisation USIA (Informationsbehörde der USA) über Jahrzehnte hinweg verfolgt wurde. Doch der Fokus des GEC sei weitaus breiter gefasst. Der feine, aber entscheidende Unterschied findet sich bei der praktischen Umsetzung der theoretisch festgelegten Richtlinien:

In einem „Spezialbericht des GEC zu den Grundpfeilern russischer Desinformation und dem propagandistischen Ökosystem“ aus dem Jahr 2020 entwickelt das GEC eine, wie Taibbi es unter Punkt 18 nennt, „noch weitaus fauligere Idee“, nämlich die Kategorie „Ökosystem“. Neben staatlichen Akteuren galten nun auch Gruppen, die „ihr eigenes Momentum generieren“, als Teil eines „Propaganda-Ökosystems“. Eine offenkundige Unabhängigkeit von entsprechenden Accounts, merkt das GEC in fast schon orwellschem Duktus an, sollte dabei „diejenigen, die versuchen, die Wahrheit kenntlich zu machen, nicht verwirren.“

Die Idee des „Ökosystems“, also die Verurteilung auf Grund einer nicht belegten, aber dennoch behaupteten Kontaktschuld, sei keineswegs neu, schreibt Taibbi unter Punkt 19. Wie das funktioniert, erklärte ein Twitter-Angestellter folgendermaßen: „Wenn man eine Nachrichtenquelle retweetet, die mit Russland in Verbindung steht, wird man zu jemandem, der mit Russland verbunden ist, was sich nicht unbedingt nach einer wissenschaftlichen Herangehensweise anhört.“

Mit den Punkten 13 bis 16 zeigt Taibbi auf, dass das GEC jenes Modell des „Ökosystems“ nicht nur auf vermeintlich Russland-affine Accounts anwandte, sondern auch auf solche, die angeblich iranische und chinesische Desinformation verbreiteten. Ebenso betroffen war die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich sowie der Corona-Widerstand in Italien. Und immer wieder ergaben die Überprüfungen durch die zuständigen Abteilungen im Twitter-Hauptquartier, dass die Vorwürfe mehrheitlich haltlos waren.

„Dies ist ein Inkubator für den inländischen Desinformationskomplex“, zitiert Taibbi unter Punkt 11 einen ehemaligen Geheimdienstbeamten. „Der ganze Mist, den wir seit dem Kalten Krieg in anderen Ländern abgezogen haben, wurde nun durch die Entscheidung von irgendwelchen Idioten zu uns nach Hause gebracht.“

Und Taibbi selbst kommentiert unter Punkt 12: „Das GEC hätte jede Kontroverse verhindern können, wenn es sich darauf konzentriert hätte, durch Recherche und ein transparenteres Vorgehen ,Desinformation' offenzulegen und zu bekämpfen. Stattdessen hat es eine geheime Liste von Subunternehmern finanziert und dabei geholfen, einer hinterhältigen – und idiotischen – neuen Form von Schwarzen Listen den Weg zu bereiten.“

Ein Problem für das GEC, schreibt Taibbi unter Punkt 22, seien allerdings die Mitarbeiter von Twitter gewesen. Diese hätten durchaus Professionalität bewiesen und die Vorwürfe zumindest geprüft, bevor sie etwas zu ausländischer Desinformation erklärten.

Doch „glücklicherweise“ habe es für das GEC einen leichteren Weg gegeben: die Medien. Das Spiel des GEC habe darin bestanden, einen alarmistischen Bericht zu schreiben, diesen an eines der rangniederen Tiere in der Journalistenherde zu schicken und dann darauf zu warten, dass Reporter mit der Frage an die Tür von Twitter hämmern, warum dieses oder jenes „Ökosystem“ noch nicht ausradiert worden sei.

Interne Mails von Twitter-Mitarbeitern, von Taibbi unter den Punkten 25  bis 38 veröffentlicht, belegen, dass Yoel Roth, damaliger Chef für Vertrauen und Sicherheit, ebenso wie etliche seiner Kollegen, die „Tricks“ des GEC sowie der anderen Zensureinrichtungen wie der Allianz zur Demokratiesicherung (ASD) oder des in den Twitter-Files 15 bereits ausführlich untersuchten Dashboard Hamilton 68 nicht nur durchschauten, sondern auch missbilligten.

Doch die Macht des Verbundes aus staatlich finanziertem Zensurnetzwerk und gelenkten Medien war einfach zu groß. Hamilton 68, das GEC und New Knowledge, ein weiteres „skandalgeplagtes Unternehmen, welches von einem früheren NSA-Beamten gegründet wurde“, hätten die Medienlandschaft mit fehlerhaften bzw. schlichtweg falschen Meldungen überflutet. Verschärfend käme hinzu, so Taibbi unter Punkt 39, dass die Amerikaner in beiden Fällen mit ihren Steuern dafür gezahlt haben, zum Objekt dieser manipulativen Operationen zu werden.

Einen Fall, den Taibbi „besonders ungeheuerlich“ nennt, beschreibt er unter Punkt 40: Im Dezember 2018 wurde ein von New Knowledge verfasster und für den Geheimdienstausschuss des US-Senats bestimmter Bericht über russische Einflussnahme an die Presse geleakt, und das nur wenige Tage bevor dieser als Teil eines Planes entlarvt wurde, der das Ziel hatte, eine russische Einmischung in die Wahlen von Alabama zu inszenieren. Medienunternehmen wie „Politico“, „Axios“ oder „npr“ brachten schlagzeilenträchtige Artikel über die angebliche russische Kampagne heraus, welche sie bis heute weder zurückgezogen noch richtiggestellt haben. Und auch der Geheimdienstausschuss des Senats hat sich nie dazu geäußert.

Laut einem Bericht des Generalinspekteurs des US-Außenministeriums aus dem Jahr 2020 wurden dem GEC, welches in deutscher Übersetzung den unscheinbaren Namen „Zentrum für Globales Engagement" trägt, anfangs 98,7 Millionen USD zugewiesen, von denen etwa 80 Millionen aus dem Pentagon kamen.

Das GEC habe die Gelder an mindestens 39 verschiedene Organisationen verteilt, deren Namen im besagten Bericht jedoch geschwärzt wurden. „Warum ist diese Liste geheim?“, fragt Taibbi unter Punkt 44 abschließend, und diese Frage bohrt den Finger ein weiteres Mal in eine der vielen Wunden, die in diesen Tagen weltweit schwären.

Denn wenn das Volk der Souverän ist und „der Staat“ das System darstellt, mit Hilfe dessen eben dieses Volk seine Interessen regelt, wie erklärt es sich dann, dass „der Staat“ den Menschen willkürlich Informationen vorenthält?

Wobei sich diese Frage einerseits auf die strukturelle Beschaffenheit eines solchen Systems bezieht und andererseits auf die unabdingbare Notwendigkeit, über ein größtmögliches Reservoir an Informationen zu verfügen, die es dem Souverän ermöglichen, ausgewogene Entscheidungen zum Wohle des Gemeinwesens zu treffen. Die Frage in diesem konkreten Fall lautet also: Hat sich „der Staat“ womöglich verselbständigt und verhindert er den für eine funktionierende Demokratie erforderlichen freien Informationsfluss, um seinen Status aufrechtzuerhalten?

Unter Punkt 9 weist Matt Taibbi auf den interessanten Umstand hin, dass das GEC im letzten Jahr der Präsidentschaft von Barack Obama geschaffen wurde.

Es war übrigens ebenfalls Barack Obama, der im Jahr 2012 ein Gesetz namens „The Smith-Mundt Modernization Act of 2012“ unterzeichnete. Trotz gegenteiliger Aussagen von diversen Faktencheckern  hat dieses Gesetz tatsächlich „dem Verbot, US-Regierungspropaganda unter Amerikanern auszustrahlen, ein Ende gesetzt.“ Unter der Schlagzeile „Die Amerikaner haben endlich Zugang zu amerikanischer Propaganda“ meldete dies zumindest The Atlantic im Jahr 2013, eine Zeitung, die definitiv nicht im Verdacht steht, gegen das Washingtoner Establishment zu arbeiten.

Begründet wurde der Schritt damals mit einem Zuwachs an Transparenz. Immerhin würde der amerikanische Bürger nun sehen können, wofür seine Steuer-Dollars bei Nachrichtensendern wie Voice of America oder Radio Free Europe, die bis dahin nur im Ausland empfangen werden konnten, verwendet werden.

Um die tatsächlichen Auswirkungen dieser Gesetzesänderung ermessen zu können, müsste man wohl jeden einzelnen Paragraphen studieren. Denn das Wesentliche verbirgt sich bekanntlich stets im Kleingedruckten.

Auch wenn noch längst nicht alle relevanten Details bekannt sind, verhärtet sich mit diesem neuen Kapitel der Twitter-Files der Verdacht, dass jegliches Narrativ, welches in den Mainstreammedien präsentiert wird, das Produkt einer Struktur darstellt, die kaum etwas dem Zufall überlässt.

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