Ein Versuch, das 9-Euro-Ticket zu verstehen

Es fährt ein Zug nach Irgendwo

von Bertolt Willison (Kommentare: 3)

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“© Quelle: Bertolt Willison

Nun ist es also da, das Interrail-Ticket Deutschland für jedermann, für 9 Euro pro Monat, buchbar im Juni, Juli und August. Beliebig viele Fahrten auf allen Strecken und in allen Verkehrsmitteln des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), nicht in den Zügen des Fernverkehrs (z.B. IC, EC, ICE) und in Fernbussen gültig.

Damit lässt sich durch unser schönes Land reisen, von Flensburg bis zur Zugspitze, vom Rhein bis an die Oder. Etwas Planung ist notwendig und die Bereitschaft, öfter mal umzusteigen.

Aber was wollte man mit diesem Geschenk ans Volk erreichen? Ein Geschenk, das wir uns selbst gemacht haben, denn wer, wenn nicht wir, zahlt diesen Trip?

Mindestens 2,5 Milliarden Euro teuer wird die dreimonatige Aktion sein, überwiesen an die Deutsche Bahn und die Länder. Bezahlt aus einem Bundeshalt, der sich nur durch Aussetzen der Schuldenbremse über Wasser hält. Die Zeche werden wir schon bald zu zahlen haben.

Ihre Unterstützung zählt

Mit PayPal

Zweck des Dumping-Fahrens im Sommer sollte es ursprünglich sein, Bürgern, die auf das Auto angewiesen sind, Pendlern zum Beispiel, angesichts der explodierenden Spritpreise das alternative Bahnfahren schmackhaft zu machen. Ein Rohrkrepierer, denn warum fahren so viele Menschen aus den Vororten mit ihrem Auto zur Arbeit in die Städte? Richtig, weil die Infrastruktur der öffentlichen Verkehrsmittel in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern systematisch runtergerockt wurde. Da ist der saure Apfel eben, Lebenszeit im Auto zu verbringen, um arbeiten zu dürfen. Langsam wird es aber eng: Der Preis für des fahrbaren Untersatzes Lebenselixier steigt so unermesslich, dass manch einer nur noch den Unterhalt seines Autos durch seiner Hände Arbeit erwirtschaftet.

Da ist es doch besser, diesen Wahnsinn durch den nächsten Wahnsinn zu ersetzen. Unser Volk, das ausrechenbare Wesen. Das Günstig-Ticket muss genutzt werden. „Allez hopp, hoch vom Sofa.“

Jetzt also ging es los. Ausgerechnet zu Pfingsten. Wie die Lemminge quetschen sich die McGeizlinge in die überfüllten Züge, gerne mit Rücksäcken, Zelten und Fahrrädern. Endlich an die frische Luft. Ins Grüne. Ans Meer. Hoffentlich einsame Sehnsuchtsorte.

Rein kommt man schon in den Waggon, Sitzen ist nicht so wichtig, Umfallen ist unmöglich. Viel zu eng dafür.

Raus geht es dann auch. Irgendwie. Besonders lustig die Umstiege, glücklich der, der den Anschlusszug erwischt auf der Station im Nirgendwo. Lange Fahrtzeiten stören uns nicht. Endlich haben wir wieder engsten Kontakt zu unseren Mitmenschen. War da was mit einem Virus? Ach, das ist seit 1. Juni in der Sommerfrische, die Maskenpflicht bei der Bahn wird bestimmt morgen abgeschafft.

Angekommen dann am Ziel der Träume, nicht nur der Weg war das Ziel, treffen wir auf gleichgesinnte Sparfüchse. Stolpern auf dem Weg zur Strandpromenade über allerlei Wegelagerer, die sich ausruhen müssen von dem langen Ritt mit der Eisenbahn. Fühlen uns nicht allein, nicht mehr so isoliert. Essen am Strand unsere Butterstulle, der Sand knirscht zwischen den Zähnen. Powernap vor der Heimreise. Sonnenbrand gratis.

Das hat uns überzeugt, das Angebot, das der ÖPNV für uns bereithält, die Zukunft der nachhaltigen Bewegung ist verheißungsvoll und alternativlos. Warum wollen wir nicht Ameisen sein?

Auf der Rückfahrt im Quetschzug denke ich an Blaise Pascal. Hatte er vielleicht doch recht? Im 17. Jahrhundert sagte er:

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Einen Kommentar schreiben

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen. Aufgrund von zunehmendem SPAM ist eine Anmeldung erforderlich. Wir bitten dies zu entschuldigen.

Kommentare