Gerade jetzt dürfen wir nicht müde werden oder gar aufgeben

Gräben werden kleiner – Eine zaghafte Annäherung passiert

von Ulrike Stallbörger (Kommentare: 2)

Die Erinnerung an die unfassbaren Menschenmengen auf den großen Demonstrationen in dieser Stadt im August und November 2020 erschien mir einen Moment lang beinahe surreal.© Quelle: Pixabay / Mammela

Ich mochte das Jahresende immer – trotz Mangel an Licht und milden Temperaturen. Gegen Ende des Jahres das Tempo drosseln, sichten, aussortieren und schon ein wenig nach vorne blinzeln; das ist eine Stimmung, die ich bis zum Jahreswechsel 2019/2020 immer sehr genossen habe.

In den zurückliegenden fast 36 Monaten war das anders. Beim zeitlichen Einordnen von Erinnerungen lande ich eher bei Kategorien wie „nach dem ersten Lockdown“, „vor Einführung der Maskenpflicht“ oder „nach Beginn des Kriegs in der Ukraine“. Mein Zeitempfinden war nicht geprägt und benennbar durch die Jahre 2020 bis 2022, jeweils einzeln zueinander abgrenzbar mit ihren jeweiligen Höhen und Tiefen – es fühlte sich eher an wie eine zähe zeitliche Kaugummimasse, bei der ich oft dachte: Irgendwann muss das Ding doch reißen.

Tara Grimm hat vor ein paar Wochen hier einen für mich ungemein kraftvollen Beitrag veröffentlicht: „Wir haben vergessen, dass wir in der Überzahl sind“. Ein Text, in dem sie daran erinnert, dass es an uns ist, dem Irrsinn dieser Zeit etwas entgegenzusetzen und uns an unsere Kraft als Menschen zu erinnern.

In der Rückschau auf diese als so zäh und bleiern empfundene Zeit bin ich bei manch Erlebtem unsicher, ob es sich wirklich so abgespielt oder ob sich da meine Gefühlslage mit den reinen Fakten vermischt hat. Ich weiß nicht, ob sich von den Berliner Lesern noch jemand an die Plakatwände in der Hauptstadt erinnert, auf denen kurz nach Einführung der Maskenpflicht eine wütende alte Frau den berühmten Mittelfinger in die Kamera hielt und damit zum Ausdruck brachte, was sie über Menschen denkt, die keine Maske tragen. Die Sprachlosigkeit, als ich dieses Plakat sah, kann ich heute noch fühlen und ich frage mich manchmal, ob es das wirklich so gegeben hat, weil es eben buchstäblich unglaublich war. Doch selbst, wenn es nur ein (Alp-)Traum oder eine Fantasie gewesen wäre, so würde das genau so viel über die Ungeheuerlichkeit dieser Zeit ausdrücken, wie das Plakat an sich.

Und trotzdem gab es über die Zeit einige – wenn auch wenige – Geschichten, die so einzigartig schön waren, dass ich mich gerne an sie erinnere. Ungefähr zur gleichen Zeit, als diese Plakate in Berlin hängen durften, bin ich in der U-Bahn einem bemerkenswerten jungen Mann begegnet. Wir kamen ins Gespräch, weil wir beide keine Maske trugen, und es entwickelte sich spontan ein sehr lebendiger und herzlicher Austausch.

Dieser junge Mann, geschätzte 25 Jahre alt, berichtete mir, dass er nicht klar komme mit all diesen Maßnahmen und das Gefühl habe, dass uns nicht die ganze Wahrheit gesagt wird. Aber seit er diese Zweifel laut ausspräche, würde man ihn als „Nazi“ bezeichnen. Er sei Türke, seine Eltern sind in den 60ern nach Deutschland gekommen, das wäre doch lachhaft, ihn in so eine Ecke zu drängen. Er habe die ganze Nacht darüber mit seiner Freundin diskutiert. Ich empfand eine aufrichtige Betroffenheit in seinen Worten, die ich so bei einem jungen Menschen nicht vermutet hätte und mit der er bei mir, vermutlich ohne es zu wissen, einen Nerv getroffen hatte.

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Ich hätte stundenlang mit ihm weiterreden können. Kurz bevor ich aussteigen muss, sagt er: „Stell dir doch nur mal vor: Du und ich stehen am Straßenrand und vor unseren Augen wird jemand von einem Auto überfahren. Er ist schwer verletzt und wir können ihm nur gemeinsam helfen, um ihn vor dem anrollenden Verkehr zu schützen. Außer uns beiden ist sonst niemand da. Da frage ich dich doch nicht erst, welche Partei du wählst, was du sonst so denkst und überhaupt. Dieser Mensch könnte sonst vor unseren Augen sterben.“

Mal ganz abgesehen davon, dass so eine Begegnung im Berliner Nahverkehr in dieser Zeit die absolute Ausnahme war, hatte ein sehr junger Mensch mit wenigen Sätzen mal eben im Vorbeigehen beschrieben, wie sie funktioniert: die Geschichte mit dem Teilen und Herrschen. Solange wir uns immer wieder zu jedem und allem abgrenzen müssen und nicht begreifen, dass wir als Menschen gerade jetzt mehr denn je gefragt sind, kann vor unseren Augen all das sterben, was uns wichtig ist. Und die Liste ist lang.

Im Kommentarbereich zu dem Text von Tara Grimm tauchte eine Frage auf, die ich mir auch oft stelle: „Wer ist das? Wir?“ Und irgendwie hat sie mich seither nicht mehr losgelassen, diese Frage. Viel war und ist die Rede von der „Menschheitsfamilie“. Da ist das „Wir sind die rote Linie“ auf Demonstrationsplakaten oder „Wir sind viele und werden immer mehr“ in Songtexten. An guten Tagen haben mich diese Worte zuversichtlich gestimmt, an schlechten Tagen schrumpften sie eher zu einem Slogan.

Etwas, was sich in meiner Lebenswirklichkeit so nicht ausgedrückt hat. Nicht wenige der Wir-Bewegungen der ersten Stunde, die sich engagiert um Aufklärung bemüht haben, sind nach fast drei Jahren längst zersplittert und irgendwie an sich selbst erkrankt. Sehr viele Menschen haben dieses Land bereits verlassen oder denken darüber nach. Es lässt sich tatsächlich nicht leicht fassen, dieses "Wir".

Da mein letzter Montagsspaziergang schon eine Weile zurückliegt, bin ich am Samstag mal wieder dem Aufruf zu einer Demonstration gefolgt. Die Initiative „Deutschland steht auf, Neustart Demokratie“ hatte unter dem Motto „Tag der Selbstbestimmung“ vor das Brandenburger Tor eingeladen. Der Platz des 18. März war gut, aber nicht übermäßig gefüllt – ich kann keine Zahlen schätzen - aber ein Blick nach hinten hat mir immer wieder verraten, dass sich da niemand auf Gehwege oder Straßen drängeln musste.

Die Erinnerung an die unfassbaren Menschenmengen auf den großen Demonstrationen in dieser Stadt im August und November 2020 erschien mir einen Moment lang beinahe genauso surreal wie das Plakat mit der wütenden alten Frau. So wichtig ich es einerseits gerade jetzt finde, nicht müde zu werden und aufzugeben, so sehr frage ich mich zwischendurch auch, ob Demonstrationen wirklich noch etwas bewegen können. So ein kleines bisschen hatte ich gestern auf dem Heimweg das Gefühl von Selbstzweck mit Unterhaltungscharakter. Die Montagsspaziergänge im letzten Winter haben dahingegen in meinem Empfinden eine eigene und große Kraft entwickelt. Sowohl nach innen als auch nach außen.

In jedem Fall war diese Veranstaltung am Samstag nicht Teil des von Politik und Medien ja bereits Anfang Oktober nahezu marktschreierisch beschworenen „Wut-Winters auf den Straßen Deutschlands“. Aber vermutlich war auch das nur ein Stöckchen, über das gesprungen werden sollte, um uns weiter gegeneinander aufzuhetzen.

Ich konnte und kann die Frage „Wer sind wir?“ tatsächlich nicht beantworten. Sich einig zu sein, dass man gegen etwas ist, bedeutet ja nicht zwangsläufig eine gemeinsame Schnittmenge oder Idee dafür zu haben, wofür man stattdessen ist. Ich persönlich habe es in der ersten Zeit der sogenannten Pandemie tatsächlich nur im digitalen Raum und auf Demonstrationen oder Spaziergängen gefunden, das Gefühl von Verbundenheit. Bis mir bewusst geworden ist, dass genau das Teil der Agenda ist. Die Vereinzelung, die Beschränkung aufs Digitale.

Und als ich angefangen habe, digitale Projekte in die analoge Welt transportieren zu wollen, bin ich auf große Widerstände gestoßen und hatte das Gefühl, manch einer mag den digitalen Raum gar nicht mehr verlassen. Mein persönliches „Wir“ sind einzelne Menschen hier und dort, versprengt in Deutschland und anderswo; unsere Schnittmenge heißt „analog“. Die digitale Welt kann ein wundervolles Vehikel sein, aber genauso wie die Demonstrationen birgt sie auch die Gefahr des reinen Selbstzwecks ohne Handlungsimpuls.

Um auf den Text von Tara Grimm und unsere Kraft als Menschen zurückzukommen: Ich stelle in meinem persönlichen Umfeld vermehrt fest, dass die Gräben kleiner werden, weniger tief sind, dass Annäherung passiert. Wenn auch zunächst nur zaghaft. Sie einfach zuzuschütten, diese Gräben, für ein „Na ja, machen wir halt weiter, nichts für ungut“, kann für mich nicht funktionieren.

Aber sie austrocknen zu lassen, mein Gegenüber mit Geduld und Nachsicht zu konfrontieren, den Versuch wagen, Kommunikation wieder gelingen zu lassen, dort wo Bereitschaft spürbar ist, scheint mir ein lohnender Versuch zu sein.

Worte wie „Versöhnung“ sind mir an der Stelle noch entschieden zu groß, aber eine ausgestreckte Hand macht nach fast drei Jahren mit dem rosaroten Elefanten im Raum für mich einen sehr wohltuenden Unterschied.

Die Strippenzieher dieser Welt werden weitermachen, das Personal scheint gesetzt, genauso wie die Leidensfähigkeit und -bereitschaft eines Großteils der Bevölkerung. Es ist ein schmaler Grat, einerseits ob all der Ungeheuerlichkeiten nicht gefühlsmäßig zu verrohen, gar gleichgültig zu werden und den Irrsinn all dessen auch weiterhin in Tiefenschärfe wahrzunehmen und zu benennen. Aber mindestens genauso wichtig erscheint es mir, all dem unsere ureigene menschliche und vor allem zwischenmenschliche Kraft aktiv entgegenzusetzen.

Ich möchte mich im neuen Jahr öfter mal an die Worte am Ende des Textes von Tara Grimm erinnern: „Unsere Zukunft wird großartig werden – einfach weil wir Menschen großartig sind. So viel besser als ihr Ruf.“ Vielleicht hebt sich das Jahr 2023 dann auch wieder aus dieser gefühlten Kaugummi-Zeit ab. Auch wenn wir (noch) nicht, wie in der Überschrift von Frau Grimms Text beschrieben, in der Überzahl sind und die Definition vorerst diffus undefiniert bleibt.

Vorerst.

Lesen Sie hier den Text von Tara Grimm.

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