Plädoyer der Musikerin für Diplomatie, Deeskalation, Frieden und Freiheit

Julia Neigel: „Niemand gewinnt, wenn ein Krieg tobt, niemand.“

von Gaia Louise Vonhof (Kommentare: 3)

„Diese, meine rote Decke erhält einen Ehrenplatz, sodass ich sie immer ansehen kann, wenn ich daran denken und mich darin bestärken will, dass ich für den Frieden, für das Leben, die Liebe, die Wahrheit und für die Freiheit bin.“© Quelle: Facebook I Julia Neigel

Mitunter ist es das leise und ganz unprätentiös Gesagte, das noch mehr berührt als eine laute Rockröhre über mehrere Oktaven – Die Sängerin Julia Neigel steht inzwischen für beides, neben ihrer Stimmgewalt auf der Bühne spricht sie aus, was sie denkt, klar und vernehmlich. Jetzt auf Facebook.

Die Künstlerin mit deutschrussischen Wurzeln nutzt ihre Popularität, um immer wieder mutig, so muss man es leider in diesen Zeiten sagen, ihre persönliche „Rote Linie“ zu benennen.

Die Rote Decke, über sie in ihrem aktuellen Facebook-Post schreibt, begleitet sie seit der Kindheit in Sibirien und erzählt eine berührende Geschichte von Wärme und Geborgenheit als Symbol einer Familie, die sich nach Krieg, Gräueltaten und Vertreibung wiedergefunden hat. Und die weiß, dass niemand gewinnt, gar nicht gewinnen kann, wenn Krieg tobt. Und Gewalt und Grauen immer ebendiese nach sich ziehen.

Beim Lesen habe ich mich automatisch gefragt, wo ist meine Rote Linie? Und was bin ich bereit dafür zu tun?

Hier der Original-Facebook-Text des berührenden Plädoyers der Silly-Frontfrau für Deeskalation, Diplomatie und Frieden:

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"Ich stöberte vor einigen Tagen auf dem Dachboden und fand diese rote Decke. Sie lag verstaubt im Dunkeln, zwischen Kartons und alten Koffern. Meine Kindheit lang hat sie mich begleitet.

Ich habe sie als 4-Jährige von meinem Großvater aus Deutschland nach Sibirien geschickt bekommen. Sie war ein Geschenk an die kleinste Tochter seiner Tochter, an sein 5. Enkelkind, nachdem er nach vielen Jahren über das Internationale Rote Kreuz herausfand, dass einige seiner Kinder noch leben und nach Sibirien verschleppt worden waren und er sogar Großvater ist.

Ich wusste damals nicht mal, wer mein Großvater war, aber ich habe diese Decke gehütet, als ob mein Leben davon abhinge.

Da stand ich also auf dem Dachboden mit glasigen Augen. Mir geht das Herz beim Anblick dieser Decke auf, all die Liebe in meiner Familie, all die Freude, als meine Mutter ihren Vater nach über 20 Jahren mit Tränenfreuden überströmt wieder in die Arme schließen durfte.

Diese Decke hat mich in mehrfacher Hinsicht gewärmt, behütet, beschützt und mir Träume gegeben, sie hat mich zu verschollenen Personen meiner Familie zurückgeführt, in die Freiheit und nach Deutschland. Ich habe sie überall mit hingeschleppt, mich unter ihr versteckt, mich in ihr eingerollt, an ihr festgehalten und sie über Grenzen gebracht.

Willy Brandt leitete durch Deeskalations- und Friedenspolitik und kluger Diplomatie erste Verhandlungen zwischen „Osten“ und „Westen“ ein, die viele Jahre später den kalten Krieg und die unsichtbare geistige Mauer zwischen Völkern beendete und ein Miteinander schuf - bei der zuvor alle Opfer gewesen waren. Er sagte einst: „Nicht Krieg, sondern Frieden ist der Vater aller Dinge“.

Wenn sich zwei streiten, freut sich oft ein Dritter im Hintergrund. Niemand gewinnt, wenn ein Krieg tobt, niemand. Er war ein kluger Mann und er hatte Recht. Willy Brandt war einst selbst im Krieg und im Widerstand. Er wusste, wovon er sprach, genauso wie mein Großvater.

Er beendete die Isolation und das Schweigen und redete mit der „anderen Seite“ mit klugen, friedlichen und respektvollen Worten. Diese Gespräche führten unsere Familie letztendlich zusammen und in die Freiheit. Dafür bin ich bis heute dankbar.

Ich werde mich nicht verführen lassen. Man sollte immer für etwas sein, anstatt gegen etwas zu sein. Diese, meine rote Decke erhält einen Ehrenplatz, sodass ich sie immer ansehen kann, wenn ich daran denken und mich darin bestärken will, dass ich für den Frieden, für das Leben, die Liebe, die Wahrheit und für die Freiheit bin.

PS und Nachtrag: An alle Sprücheklopfer und Rassisten, die sich hier wegen meiner Herkunft ausgelassen hatten: Ich bin keine Russin, sondern Russlanddeutsche. Stalin hat einst, aus Hass auf die Nazi-Deutschen und deren Gräueltaten einen Großteil meiner Familie im sibirischen Arbeitslager ermorden lassen, da sie Deutsche waren und dort friedlich lebten. Gräueltaten hatten Gräueltaten zur Folge. Wir durften nach dem Kriegsverschlepptengesetz in den 70er-Jahren zurück in die Heimat meiner Vorfahren und zu meinem Großvater, der mit seiner Familie aus der UdSSR wegen ethnischer Verfolgung im Krieg nach Deutschland floh. Dort wurden der Rest seiner Familie nach Kriegsende nach Sibirien deportiert und verblieb dort bis zur Ausreise in den 70er Jahren. Die Russische Föderation hat sich 2006 für die Gräueltaten Stalins an meiner Familie bei meiner Mutter offiziell entschuldigt. Ungeachtet dessen ist jeder Mensch gleich viel wert."

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