Eine 10-jährige Schulpflicht in der „Polytechnischen Oberschule“

Klassentreffen – Schulzeit im real existierenden Sozialismus der DDR

von Corinne Henker (Kommentare: 9)

Es gab Kurse für „Zivilverteidigung“, bei denen wir u.a. mit Gasmasken laufen, mit dem Luftgewehr schießen oder Attrappen von Handgranaten werfen durften© Quelle: Youtube / DDR Geschichte Screenshot

Am letzten Wochenende besuchte ich ein Klassentreffen in Leipzig: 40 Jahre nach Abschluss der 10. Klasse. Es war eine interessante Reise in die Vergangenheit, verbunden mit einigen neuen Erkenntnissen.

Ich wurde 1967 in Leipzig geboren, meine Schulzeit von 1973-85 fand also im real existierenden Sozialismus der DDR statt. Glücklicherweise hatte man zu dieser Zeit bereits erkannt, dass sich mit Ideologie allein kein Staat machen ließ (man war diesbezüglich also etwas weiter als im Scholzland 2023), sodass sich ein Mangel an Haltung in gewissen Grenzen mit einem Mehr an Leistung ausgleichen ließ – und umgekehrt.

Zunächst eine kleine Erklärung des DDR-Schulsystems. Da aufgrund der eher geringen Arbeitsproduktivität im Sozialismus auch Frauen als Arbeitskräfte benötigt wurden, besuchten fast alle Kinder den Kindergarten. In meiner Erinnerung war das eher eine Aufbewahreinrichtung als eine Propaganda-Anstalt. Ich habe den Kindergarten gehasst, weil ich dort ständig basteln und singen musste, statt endlich Lesen und Schreiben zu lernen.

Das eigentliche Schulsystem wurde immer mal wieder etwas verändert, zu meiner Zeit existierte eine 10-jährige Schulpflicht in der „Polytechnischen Oberschule“ (POS). Es gab dabei merkwürdige Fächer wie „Einführung in die sozialistische Produktion“ (ESP), „Praktische Arbeit“ in sozialistischen Betrieben (PA) oder „Staatsbürgerkunde“ (entspricht in etwa dem Politik-Unterricht). Außerdem gab es Kurse für „Zivilverteidigung“, bei denen wir u.a. mit Gasmasken laufen, mit dem Luftgewehr schießen oder Attrappen von Handgranaten werfen durften (mit dem Original hätte ich mich vermutlich selbst gesprengt).

Die Qualität des Unterrichts war – genau wie jetzt auch – stark von den individuellen Lehrerpersönlichkeiten abhängig. Die meisten absolvierten einen mehr oder weniger brauchbaren Dienst nach Vorschrift. Daneben gab es inkompetente Ideologen, die man gut zufriedenstellen konnte, wenn man ihr Geschwafel einfach nachplapperte.

Einigen Sadisten bereitete es Freude, einzelne Schüler wegen minimaler Fehler vor der ganzen Klasse zu demütigen. Und es gab einige wenige fähige und hoch motivierte Lehrer, die die ganze Klasse begeistern konnten. Einer von ihnen war auch bei unserem Klassentreffen zu Gast.

Grundsätzlich legte man in der DDR mehr Wert auf schriftliche als auf mündliche Leistungen – aus meiner Sicht sinnvoll, da es sich objektiver überprüfen ließ. Der Fremdsprachen-Unterricht war deutlich schlechter als im heutigen System: Kaum ein Englisch-Lehrer hatte jemals ein englischsprachiges Land bereist und auch der Russisch-Unterricht wies oft erhebliche Mängel auf – einige Schüler beherrschten in der 10. Klasse noch nicht einmal das kyrillische Alphabet.

Gesellschaftswissenschaften sind immer ideologisch verfärbt, in Mathematik und Naturwissenschaften hatte ich den Eindruck, fitter zu sein als meine späteren Studienkollegen in Essen (NRW). Vermutlich konnte unser DDR-Abitur in Mathematik und Naturwissenschaften nicht mit jedem westlichen Leistungskurs mithalten, aber Schulabgänger der POS, die mit Dreisatz, Prozentrechnung oder Winkelgraden nichts anfangen konnten, waren doch die Ausnahme.

Nach der 10-jährigen POS konnte man an der „Erweiterten Oberschule“ (EOS) nach zwei Jahren das Abitur ablegen und ggf. studieren, eine Berufsausbildung absolvieren oder beides in einer „Berufsausbildung mit Abitur“ (BMA) kombinieren.

Letztere entsprach in etwa einem Fachabitur: Man konnte danach nicht jedes Studienfach wählen, sondern nur diejenigen, die zur Berufsausbildung passten. Die Auswahl erfolgte offiziell nach Interessen und Leistungen, aber auch ideologische Faktoren spielten eine Rolle. So wurden z.B. „Arbeiterkinder“ für die weiterführenden Schulen eher bevorzugt, Kinder von Akademikern sollten lieber ein Handwerk lernen. Allerdings war das in unserer Zeit mehr Theorie als gelebte Praxis. Eine meiner Klassenkameradinnen musste ihren Berufswunsch Russisch-Lehrerin jedoch abschreiben, weil sie getauft und konfirmiert war.

Bereits während der POS gab es einige Sonderwege. Zunächst die Sportschulen: Da internationale sportliche Erfolge als Aushängeschild des Sozialismus herhalten mussten (in Ermangelung anderer Leistungen), wurden sportliche Talente bereits in der Kindheit intensiv gefördert und ggf. auch medikamentös gedopt. An den Sportschulen stand natürlich das Training im Vordergrund, aber auch der theoretische Unterricht wurde nicht vernachlässigt.

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Nur wenige Schüler wurden berühmte Leistungssportler, aber die meisten waren auch als Erwachsene erfolgreich. Die Qualitäten, die man im Leistungssport benötigt – Fleiß, Ausdauer, Ehrgeiz – sind für jede Karriere hilfreich.

Außerdem gab es einige Spezialschulen, die in der 9. Klasse begannen und zum (mehr oder weniger spezialisierten) Abitur führten: z.B. mit dem Schwerpunkt Mathematik-Physik oder ein Spezialinternat für zukünftige Russisch-Lehrer.

Und es gab die „R-Klassen“, zu denen auch unsere Klasse gehörte. In jedem Kreis oder Stadtbezirk wurden hier bereits in der 2. Klasse in jeder Schule ein bis zwei der mutmaßlich intelligentesten Schüler herausgesucht, um sie in einer Klasse zusammenzufassen, in der (statt ab der 5.) bereits ab der 3. Klasse Russisch unterrichtet wurde. Natürlich ist die Auswahl in diesem jungen Alter schwierig, aber in unserer Klasse hatte man dabei gute Arbeit geleistet.

Der Wechsel in eine R-Klasse war freiwillig, aber die Chance wurde gern genutzt. Der Russisch-Unterricht war mehr ein Nebeneffekt: Das Lernniveau war insgesamt höher und es gab weniger Unterrichtsausfall. Schülern, deren Durchschnitt unter 2,5 sank, wurde nahegelegt, die Klasse zu verlassen. Unsere Klasse war mit etwa 30 Schülern ähnlich groß wie normale Klassen.

Die Zusammensetzung wechselte, z.B. durch Umzüge. Außerdem kamen hin und wieder Schüler in unsere Klasse, die mit ihren Eltern vorher in der Sowjetunion gelebt hatten. Meist von der Botschaftsschule in Moskau, aber auch ein Mädchen, deren Eltern als Physiker im Kernforschungszentrum in Dubna gearbeitet hatten.

Das mag sich vielleicht elitär anhören, aber wir waren doch eine ziemlich normale Klasse. Die meisten von uns wollten einfach nur ihre Jugend genießen und die Schule mit ordentlichen Noten beenden, um angenehme Zukunftsaussichten zu haben – soweit im real existierenden Sozialismus möglich. Die sozialistische Ideologie war mehr eine Art Hintergrundrauschen als eine Lebenseinstellung.

Wenn notwendig, trugen wir Pionierhalstuch oder FDJ-Hemd und nahmen an den entsprechenden Veranstaltungen teil. In der Freizeit hörten wir lieber westliche Musik und schauten ARD und (falls möglich) ZDF. Wer nicht über „Eine amerikanische Familie“ oder „Dallas“ mitreden konnte, war schnell ausgegrenzt.

Besonders glücklich waren diejenigen, die von ihrer Verwandtschaft mit westlicher Kleidung versorgt wurden: die DDR-„Mode“ war doch ziemlich trist. Wer allerdings eine noch so winzige BRD- oder USA-Flagge an der Kleidung trug, lief Gefahr, von den Lehrern nach Hause geschickt zu werden.

Nach Schulabschluss hatten wir bereits drei Klassentreffen veranstaltet: nach fünf, 15 und 25 Jahren. Ich hatte an jedem davon teilgenommen und war begeistert: Die Organisatoren hatten sich jedesmal selbst übertroffen. Wir hatten uns immer wieder vorgenommen, in Kontakt zu bleiben, aber funktioniert hatte es nie so richtig.

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Bei mir beschränkte es sich darauf, dass ich mich seit einigen Jahren mit zwei Schulfreundinnen für ein verlängertes Wochenende in einer europäischen Stadt traf: Mailand, Madrid, Bilbao, Wien, Oslo, Krakau. Auch die Corona-Schikanen konnten uns davon nicht abhalten.

Mit zwei männlichen Klassenkameraden verbanden mich ähnliche Interessen: Reisen und/oder SciFi. Wir pflegten sporadische E-Mail-Kontakte und hatten uns ein- oder zweimal getroffen, aber das war schon vor vielen Jahren eingeschlafen.

Also sollte ich nun nach 15 Jahren Pause die meisten von uns zum ersten Mal seit langer Zeit wiedersehen. Als vor gut einem halben Jahr die erste Nachricht über das geplante Klassentreffen eintraf, war ich begeistert. Als typischer Cis-Frau stellten sich mir aber gleich die ersten Probleme: Bin ich zu fett? Was soll ich anziehen? Und wie hatten sich die anderen gehalten?

Die ersten beiden Fragen waren ganz eindeutig mein persönliches Problem, aber dank einer von den Organisatoren ins Leben gerufenen WhatsApp-Gruppe konnte ich zumindest schon vorab einiges über meine alten Klassenkameraden erfahren.

Leider waren drei von uns inzwischen verstorben, fünf Leute waren trotz intensiver Bemühungen nicht auffindbar.

Die meisten anderen hatten sofort Interesse an einem Treffen bekundet, einige mussten aber kurzfristig absagen. Letztlich waren immerhin 21 Schulkameraden und unser Lieblingslehrer anwesend. Etwa ein Drittel von uns lebte noch oder wieder in Leipzig und Umgebung. Der Rest war nicht nur über Deutschland verstreut, sondern bis in die Niederlande, Florida und Texas.

Jeder von uns war in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, die meisten hatten Ehepartner und/oder Kinder. Die häufigsten Berufe waren Ingenieure/Informatiker (darunter eine Professorin für Theoretische Informatik/Künstliche Intelligenz), Steuerberater/Wirtschaftsprüfer und (4) Ärzte. Optisch hatten wir uns im Laufe der Jahre alle mehr oder weniger verändert, aber die meisten von uns waren doch recht problemlos wiederzuerkennen.

Das Programm am verlängerten Wochenende war auch recht anspruchsvoll. Ich war etwas früher angereist und hatte so die Gelegenheit, mich bereits vorher mit ein paar alten Bekannten und der Stadt vertraut zu machen. Im Zentrum von Leipzig ist praktisch nichts von der Antifa zu bemerken, sodass mir meine alte Heimat deutlich besser gefiel als die neue in NRW.

Am Samstag besuchten zunächst einige von uns die 9/11-Ausstellung im Panometer, die übrigens sehr empfehlenswert ist. Nachmittags trafen wir uns zur Besichtigung unserer alten Schule. Danach folgte eine alternative Stadtführung zu den denkmalgeschützten Häusern unseres Viertels. Zu Fuß ging es dann weiter zu einem italienischen Restaurant, in dem wir den Abend verbrachten. Als kleine Zwischeneinlage gab es einen Sächsisch-Kurs als Auffrischung für die Abgewanderten. Am nächsten Morgen fand noch eine Wanderung entlang der Pleiße statt, aber die Teilnehmerzahl war dabei schon deutlich geschrumpft.

Während der Schulzeit hatten wir natürlich alle unsere Cliquen, man war sich mehr oder weniger sympathisch. Beim Klassentreffen konnte wirklich jeder mit jedem reden. Vielleicht lag es an der langen Abwesenheit oder der Jugendnostalgie, aber alte Antipathien spielten gar keine Rolle mehr, jeder war auf seine Weise eine interessante Persönlichkeit.

Wir Damen hatten uns mehr „in Schale geworfen“ als die Herren, mit der vorher angestrebten Gewichtsreduktion hatte es bei mir leider nicht funktioniert (wie immer). Keiner von uns war ein arroganter Selbstdarsteller, der den ganzen Raum dominiert und dabei seine Umgebung nur nervt.

Leider ist heute alles ein bisschen politisch. Ich lebe seit meiner „Republikflucht“ im Mai 1989 bis auf zwei kurze Intermezzi in Berlin bzw. Franken ständig im Homeland NRW.

Während ich hier nur mit wenigen Menschen frei reden kann, war das mit meinen alten Klassenkameraden ganz anders. Grundsätzlich waren wir alle mehr pragmatisch als ideologisch orientiert. Die meisten waren mit der politischen Situation unzufrieden, versuchten aber, für sich und ihre Familie das Beste daraus zu machen, statt nur zu jammern.

Alles in allem war es für mich eine sehr bereichernde Erfahrung, die wir hoffentlich in fünf Jahren wiederholen können.

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