Ein eindringlicher Appell auf Twitter

Mikado mit roten Linien: Ohne sofortige Verhandlungen endet der Ukraine-Krieg in einer Katastrophe

von Bertolt Willison (Kommentare: 6)

Schuld oder Unschuld sind auf geopolitischer Ebene Kategorien, die vor dem befleckten historischen Gewand einer jeden Nation in Beliebigkeit verschwimmen. Sie helfen nicht weiter.© Quelle: Pixabay / Roman

Europa steuert auf eine neue Apokalypse zu. Während Bundeskanzler Scholz die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern in die Ukraine zugesagt hat, eskaliert Außenministerin Baerbock die dramatische Situation und redet offen von einem Krieg Deutschlands mit dem Aggressor Russland.

Selbst Marie-Agnes Strack-Zimmermann übt Zurückhaltung bei den aktuellen Forderungen Wolodymyr Selenskyjs, nun auch Flugzeuge und Raketen in sein Land zu schicken. Die roten Linien werden immer wieder neu gezogen.

Wann die Ukraine den Einsatz von Nato-Truppen verlangt, scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

Warum eine Lösung des Konfliktes am Verhandlungstisch wichtiger denn je ist, stellt der Twitter-User @theotherphilipp in einem vielbeachteten wie ausführlichen Thread dar. Ich habe die 31 Tweets, die eindringlich und in größtmöglicher Ausgewogenheit an sofortige Friedensverhandlungen appellieren, in eine für Sie lesbare Version übertragen. Beim Versuch, etwas zum Hintergrund des Autors zu finden, bin ich gescheitert.


Twitter, 26.1.2023

Pace / @theotherphilipp
„Philosophy • Literature • Politics • Science“

Ein Diskursbeitrag – Keine Wahrheiten

Im Krieg überlässt die Zivilisation der Barbarei die Bühne, alles Menschliche tritt hinter grausames Leidkalkül zurück. Russland hat diesen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen. Über die Gründe, die mannigfaltigen Wechselwirkungen undurchdringlicher Partikularinteressen, die historischen Verletzungen, das geopolitische Zündeln und die charakterlichen Abgründe, die diese entmenschlichende Bühne bereitet haben, werden erst Historiker erschöpfende und vermutlich niemals befriedigende Antworten geben können.

Der Streit über die Konfliktursachen dieser Welt ist so alt wie die Menschheit selbst. Schuld oder Unschuld sind auf geopolitischer Ebene Kategorien, die vor dem befleckten historischen Gewand einer jeden Nation in Beliebigkeit verschwimmen. Sie helfen nicht weiter. Die Charta der Vereinten Nationen jedenfalls verbietet den Angriffskrieg und wurde von 193 Ländern inklusive Russland ratifiziert.

Nun müssen wir uns im Hier und Jetzt der Realität dieses Irrsinns stellen, denn über die Schlachtfelder der Ukraine hinaus wirkt seine verstörende Brutalität in unsere Leben hinein. Wir können uns dem nicht entziehen und müssen – weil wir Menschen sind – einen Weg finden, ihn zu ertragen.

Gleichwohl oder vielleicht auch gerade deshalb erschüttert die seltsam eintönige deutsche Perzeption des Krieges.

Mit infantilem Imperativ und Schlachtrufen, so zeitgemäß wie Pickelhauben, stürzt man unter wehenden Fahnen und mit Ukraine-Pin am Revers in einen Konflikt, dessen Kinetik eine unbeherrschbare Dynamik entfalten kann.

Ich finde keinen Zugang zu einfältigen Zirkelschlüssen, nach denen man sich mit einer Seite gemein machen muss, um die andere für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Und was ist das nur für ein geschichtsvergessener Simpel, der dem Deutschen die aufklärerischen Flausen aus- und preußische Militärtugenden eintreibt? Wie kann man dem Kreml pathologische Allmachtsfantasien attestieren, gleichzeitig aber darauf hoffen, dass er einer rationalen Beurteilung der Mechanik dieses Krieges zugänglich ist? Schwarz-Weiß-Schablonen werden der Schwere der Ereignisse einfach nicht gerecht.

Bis dato zeichnen sich die Kriegsparteien auf beiden Seiten auch eher durch eine Folge fataler Fehleinschätzungen aus. Einerseits haben weder die Sanktionen Russland in die Knie gezwungen oder Putin unter innenpolitischem Druck aus dem Amt gejagt, noch hat ein langer, zermürbender Stellungskrieg sie zum Rückzug gezwungen. Andererseits ist der russische Plan mit einer raschen militärischen Operation welche verklärten Ziele auch immer zu erreichen, gleichermaßen und unter furchtbaren Verlusten gescheitert.

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Natürlich kann man über die Ungerechtigkeit dieser Welt lamentieren, muss das Verbrechen dieses Krieges beklagen. Man kann sich einen Sack voller moralischer Überlegenheit über die Schulter schwingen. Das alles ist nur allzu menschlich. Bloß, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, gewinnt keine Kriege. Ist es nicht das Gebot der Stunde, ja die Pflicht der kriegsgeschundenen europäischen Nationen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, diesem Konflikt mit diplomatischen Mitteln Einhalt zu gebieten?

Eine Panzerallianz soll nun also Panzer liefern. Ich halte das für einen schweren Fehler. Ich bin kein Militärstratege, aber was 50 oder 100 Panzer angesichts einer mehr als 2.000 km langen Landgrenze und mangelnder Lufthoheit verändern sollen, erschließt sich mir nicht.

Und wenn wir zu Panzern ja sagen, wie sollten wir dann die Lieferung von Kampfflugzeugen, weiterem schweren Gerät und am Ende vielleicht gar Truppen versagen? Jeder Schritt, den Europäer erwägen, wurde von Russlands Militärstrategen doch längst vorgedacht. Russland hatte quälend lange Zeit, sich auf sämtliche Szenarien vorzubereiten. Wer will ernsthaft glauben, dass 100 Panzer irgendetwas ändern? Wer kann garantieren, dass Russland nicht unter Inkaufnahme hoher ziviler Verluste schwereres Kriegsgerät als Reaktion aufbringt?

Die Eskalationsspirale wird sich weiter drehen. Mehr Menschen werden sterben, mehr Städte zerstört. Doch was ist das Ziel? Russland mit Pauken und Trompeten in die Flucht zu schlagen? Wann soll dieses Ziel erreicht sein? Welchen Preis ist man bereit, dafür zu zahlen? Ist es überhaupt mit militärischen Mitteln zu erreichen?

Falls kein Wunder geschieht, droht ein Jahre dauernder Abnutzungskampf. Und das ist vermutlich noch eines der besseren Szenarien. Eine schnelle militärische Lösung ist scheinbar nicht in Sicht. Doch mit jedem getöteten Ukrainer wächst das Leid und mit jedem gefallenen russischen Soldaten wächst der Druck auf die russische Führung, nicht mit leeren Händen aus der Schlacht zurückzukehren. Mit jedem Tag, den der Krieg länger dauert, besteht die Gefahr, dass politische Tölpelei auf beiden Seiten den Konflikt zu einem europäischen, im schlimmsten Fall einem Weltkrieg eskalieren lässt.

Sich den Realitäten zu stellen und alle erbringbare Vernunft in die Waagschale zu legen, ist unerlässlich.

Was ist jetzt noch zu gewinnen? Eine brutale Frage, aber sie nicht zu stellen, bedeutet sinnloses Leid gegen ein Prinzip aufzurechnen, von dem nicht einmal klar ist, ob ihm überhaupt noch Geltung verschafft werden kann. Ich kann daran nichts Zivilisatorisches erkennen. Der Zweck heiligt die Mittel eben nicht.

Was nutzt es, zum Preis von Tod und Elend die Wiederherstellung eines Status quo zu deklarieren, wenn er angesichts einer militärischen Übermacht des Gegners gar nicht zu erreichen ist?

Die Politik muss sich ehrlich und die Menschen sich bewusst machen, dass hier in einem Spiel mit unklaren Regeln und gezinkten Karten gespielt wird. Entscheidungen sind mit erheblichen Unsicherheiten behaftet und über Reaktionen der russischen Seite kann bestenfalls spekuliert werden.

Ohne eine belastbare Folgenabwägung und – ja – einer kühlen, rationalen Betrachtung des Nutzens einer deutschen Beteiligung müssen die Sicherheitsinteressen dieses Landes vor gut gemeintem, aber unverantwortlich waghalsigem und von einer falsch verstandenen Solidarität getriebenem Aktionismus stehen.

Im Lichte der bizarren Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen der Bundesregierung hinsichtlich der Coronamaßnahmen fällt es außerordentlich schwer, ihr in der Beurteilung einer solch undurchdringlichen Gemengelage zu vertrauen, und es ist leicht zu ermessen, wie fundiert deren Entscheidungen in der Ukraine-Frage sind.

Es gibt viele emotionale Gründe, dem ukrainischen Volk beistehen zu wollen. Rationale Gründe, sich militärisch (sei es nur durch Waffenlieferung und Ausbildung) zu beteiligen, sehe ich angesichts der daraus resultierenden unwägbaren Gefahren und fraglichem Nutzen nicht.

Wir müssen zu einem sachlichen und besonnenen Diskurs zurückkehren. Das siegessichere, tumbe Schlachtgejaule einiger Journalisten und Politiker wird der Situation in keiner Weise gerecht. Es ist beschämend für ein zivilisiertes Land des 21. Jahrhunderts.

Es gibt in diesem Konflikt keine einfachen Antworten, kein richtig oder falsch. Sicher ist nur die traurige Erkenntnis: Die größtmögliche Niederlage ist bereits eingetreten. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten und das Ausmaß der Zerstörung übersteigen jegliche Vorstellung.

"Geschichte wiederholt sich", sagte Nietzsche einst. Aber die Welt ist heute eine andere als vor 50, 70 oder 100 Jahren. Man kann sich an Geschichte erinnern, aber sich an den längst überholten Karten der Vergangenheit ausrichten zu wollen, ist ein törichtes Unterfangen.

Den europäischen Frieden zu gefährden, nur um möglicherweise einem Prinzip Geltung zu verschaffen, ist angesichts der immensen Zerstörungskraft moderner konventioneller Kriegsführung der blanke Wahnsinn und die Gefahr einer weiteren Eskalation ein Spiel mit dem Feuer.

Diplomaten sollten wir schicken, keine Panzer. Wir sollten zur Einsicht gelangen, dass wehmütiges Festhalten am Vergangenen jedenfalls dann das größere zweier Übel ist, wenn es auf egal welchem Wege nicht wiederzuerlangen ist.

Den Original-Twitter Beitrag von Pace / @theotherphilipp finden Sie hier.

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