Armut in Deutschland im Vormarsch: Mehr Bedürftige, weniger Lebensmittelspenden

Neue deutsche Nationalhymne ist der knurrende Magen – Aufnahmestopp bei den Tafeln

von Gaia Louise Vonhof (Kommentare: 1)

„Wir können nicht auffangen, was der Staat nicht schafft.“ Mittlerweile lebe jeder sechste in Deutschland in Armut. Mit Blick auf den Winter rechnet die Tafel Deutschland mit einem weiteren Anstieg der Armut und einem noch höheren Ansturm auf ihre Ausgabestellen.© Quelle: Pixabay / RitaE / Iha31, Montage Alexander Wallasch

Armut ist in Deutschland im Vormarsch. Rund zwei Millionen Menschen gehen zur Tafel, um dort aus freiwilligen Spenden Lebensmittelhilfen zu erbitten. Der eigentliche Bedarf ist noch höher.

Seit Jahresbeginn verzeichnet die Tafel einen Anstieg der Nachfragen um 50 Prozent. Schon im Juli schlug die Dachorganisation Tafel Deutschland ob dieser steigenden Armutstendenz Alarm. Noch nie war der Ansturm seit dem dreißigjährigen Bestehen der Tafeln so hoch wie jetzt. Parallel dazu nehmen Freiwilligenengagement und Lebensmittelspenden ab. Der aktuelle Ansturm ist sogar so stark, dass bei rund 30 Prozent der Tafeln keine weiteren Abholer zugelassen werden.

Die dramatische Zunahme von Armut hat aber noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht. Laut Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Quote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemiejahr (2021) einen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.

Noch mal zum Grundsätzlichen: Die Tafeln sammeln ehrenamtlich überschüssige Lebensmittel von Händlern und Herstellern, um sie an Bedürftige zu verteilen. Auf diese Lebensmittelspenden ist die Freiwilligenorganisation angewiesen, denn es kann nur weiterverteilt werden, was vorher gespendet wurde.

Von den 960 Tafeln deutschlandweit hatten bis jetzt vor allem Hartz-IV-Empfänger, Rentner und seit Beginn des Ukrainekrieges auch viele Geflüchtete die gespendeten Lebensmittel bekommen. Nicht zu vergessen die Kinder mit einem traurigen Rekordwert von über 20 Prozent.

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Hinzukommt seit dem zweiten Pandemiejahr auch eine größer werdende Gruppe der Erwerbstätigen und Selbständigen, die nach dem Auslaufen von Hilfen und Schutzschirmen jetzt auch von Armut betroffen sind (Steigerung von 9 Prozent in 2020 auf 13,1 Prozent in 2021, zu 2022 gibt es noch keine Zahlen).

Es wird eng am ehrenamtlichen Futtertrog. In der Schlange bei der Tafel stehen inzwischen immer mehr Menschen, die durch steigende Preise nicht länger von ihrem Einkommen allein leben können.

Man könnte auch sagen, dass viele von denen, die vorher sogar an die Tafel Lebensmittel gespendet haben oder potenzielle Helfer waren, inzwischen vielleicht selbst schon ein Fall für die Tafel geworden sind, oder zumindest die Gefahr besteht, dass sie es in naher Zukunft noch werden könnten.

Erst im Oktober hatte Deutschland, was die Inflationsrate betrifft, einen neuen Negativrekord aufgestellt. Wobei die Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Energiepreisen besonders hoch sind.

Die Teuerungsrate kletterte im Vergleich zum Vorjahr auf 10,4 Prozent, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Das ist der schnellste Anstieg der Verbraucherpreise seit der Wiedervereinigung, also seit über 30 Jahren.

Das klingt gar nicht so viel, wie es auf dem Supermarkt-Kassenbon aussieht, denn da wären gute 10 Prozent wohl noch richtig gute Nachrichten. Wenn man Lebensmittel-Teuerungen getrennt betrachtet von anderen Konsumgütern, deren Preisentwicklungen Destatis gleich miterhebt und als eine Inflationsrate veröffentlicht, kommt man aber weit über diese 10,4 Prozent, man landet sogar beim Doppelten.

Mit 20,3 Prozent stiegen die Nahrungsmittel-Preise im Vergleich zum Vorjahresmonat überdurchschnittlich. Wobei die gefühlte Inflation noch höher ist, nämlich durchschnittlich 34 Prozent, wie eine Studie der IU Internationale Hochschule ergab.

Die Energiepreise stiegen laut Destatis auf über 40 Prozent, und bei solch schwindelerregenden Zahlen ohne Aussicht auf Verbesserung wird vorstellbar, welche Auswirkungen diese gerade auch auf Haushalte und Personen mit niedrigerem Einkommen haben.

In deren Haushaltskasse schlagen diese Erhöhungen wesentlich mehr zu Buche als bei jemandem, der beispielsweise als Staatsdiener mit ein paar Tausendern im Monat genau an all den Fehlentscheidungen, die zu dieser Situation geführt haben, mitwirkt.

Jochen Brühl, der Vorsitzende des Tafel Dachverbandes kommentierte die dramatische Entwicklung gegenüber rp-online.de: „Wir können nicht auffangen, was der Staat nicht schafft.“ Mittlerweile lebe jeder Sechste in Deutschland in Armut. Mit Blick auf den Winter rechnet Brühl mit einem weiteren Anstieg der Armut und einem noch höheren Ansturm auf die Tafeln.

Circa 60.000 Freiwillige deutschlandweit helfen dabei mit, die Waren anzunehmen, zu kontrollieren, zu sortieren und möglichst fair zu verteilen. Aber wie schon eingangs erwähnt: Deren Zahl sinkt. Aktuell fehlen nicht nur Lebensmittelspenden, sondern auch Freiwillige, so dass viele der Tafeln ihre Lebensmittelaugabemengen reduziert haben oder auch die Abholhäufigkeit zum Beispiel von wöchentlich auf vierzehntägig umgestellt wurde, um möglichst vielen zu helfen. Zwangsläufig ist so aber auch die Quantität der Hilfe reduziert.

„Wir können nicht auffangen, was der Staat nicht schafft“, sagt Jochen Brühl. Und der Tafel-Chef fordert „Schluss mit der Gießkanne, die Regierung muss Soforthilfen beschließen, die Armutsbetroffene gezielt erreichen. Wir fordern zudem für das angekündigte Bürgergeld armutsfeste Regelsätze von mindestens 678 Euro.“

Der Regelsatz im „Bürgergeld“, welches ab Januar 2023 Hartz IV ersetzt, soll um circa fünfzig Euro von 449 Euro auf 502 Euro erhöht werden. (alexander-wallasch.de berichtete). Auch den Zugang zu diesem Bürgergeld will man unbürokratischer und niedrigschwelliger gestalten.

Damit werden auch viele Geflüchtete, die einen immer höher werdenden Anteil beim Ansturm auf die Tafeln ausmachen, einen schnelleren Zugang zum deutschen Sozialsystem finden. Und diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind, werden von Deutschland aus ebenfalls mitversorgt:

Außenministerin Baerbock kündigte jüngst beim G7-Gipfel im westfälischen Münster eine umfassende Winterhilfe für die Ukraine an. Jetzt sollen also, nachdem für Milliarden Euro Kriegsgerät in die Ukraine geschickt wurden, Lebensmittel und Generatoren ins Kriegsgebiet geschickt werden. Die G7-Runde wolle laut Baerbock nicht zulassen, dass massenhaft ältere Menschen, Kinder und Jugendliche durch die Methode des Aushungerns und des Erfrierenlassens ums Leben kämen.

Wer bezweifelt hier eigentlich noch, dass dieser Krieg beendet werden muss? Kein diplomatischer Winkelzug darf unversucht bleiben, selbst wenn es eine OP im offenen Rachen des Bären ist. Der Winter ist nicht nur der Feind der Soldaten im Feld. Der Winter tötet vor allem die Zivilbevölkerung.

Und er tötet im Zweifel auch dort, wo der Krieg noch gar nicht angekommen ist. Tafel-Chef Brühl fordert für die, die in Deutschland zur Tafel gehen, um das Nötigste zum Essen in ihrem Alltag zu bekommen: „Armutsbetroffene Menschen brauchen jetzt schnelle Hilfen und nicht erst, wenn der Winter da ist.“

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