Rückblick ins Fernseharchiv: Ein Welterklärer schaut auf die Ukraine und Russland

Peter Scholl-Latour 2014: „Die Nato dehnt ihren militärischen Einfluss über die willfährige Ukraine bis zum Don aus.“

von Gregor Leip

„Die Nato dehnt ihren militärischen Einfluss über die willfährige Ukraine bis zum Don aus. (…) Für Wladimir Putin ist der Abfall der Ukraine schwer erträglich.“© Quelle: Screenshot / YouTube, phoenix

Die Lager sind gespalten, jeder hat sich positioniert. Und während sich die Ukraine gegen Russland verteidigt, ist der Kalte Krieg wieder ausgebrochen. Aber nicht nur zwischen den Supermächten. Sondern längst auch zwischen dem polit-medialen Komplex und einem Teil seiner Bürger. Nutzen wir die Zeit, einen Schritt zurückzutreten:

Der 2014 verstorbene Journalist, Bestsellerautor und Kriegsreporter Peter Scholl-Latour sprach noch kurz vor seinem Tod mit Phoenix-Moderator Alfred Schier über die Ukraine. Wer dieses Interview heute anschaut oder nachliest, der weiß anschließend, was wir an dem großen Welterklärer verloren haben. Hier eine Aufzeichnung des Gespräches:

Ihre Einschätzung zur aktuellen Situation in der Ukraine. Wie beurteilen sie da die Situation?

Man hat ja gar nicht zur Kenntnis genommen, dass die Ukraine kein geeintes Land ist. Es gibt den westlichen Teil, der österreichisch war – zwischen den Kriegen auch polnisch – und der auch katholisch-orthodox ist. Sie haben den orthodoxen, den byzantinischen Ritus, aber sind dem Papst unterstellt.

Das macht einen enormen Unterschied zwischen dem Osten, der rein russisch, tief-orthodox ist, wo auch die Kosaken zu sagen haben. Und wenn es eine Lösung für die Ukraine geben sollte, wäre es im Grunde eine Föderation, eine Gruppierung föderierter Gebiete, die aber doch sorgfältig voneinander getrennt sind.

In Kiew schaut doch keiner durch, da wird doch auf dem Maidan dauernd manifestiert und auf der Krim ist es ziemlich eindeutig. Die Krim ist überwiegend russisch.

Ihre Unterstützung zählt

Mit PayPal

Putin, Russland hat die Macht auf der Krim übernommen. Wird Putin sich damit zufriedengeben? Oder marschiert er am Ende auch noch im Osten und Süden der Ukraine ein?

Putin ist ein Mann des Geheimdienstes. Er weiß, wie weit er gehen kann. Er versteht es auch, seine Karten auszuspielen, das hat er jetzt in Syrien gezeigt. Und dass er wieder die Oberhoheit, die Kontrolle über die Krim haben will, verstehe ich durchaus.

Abgesehen davon, was soll das hier, dieses ewige Polemisieren gegen Putin? Wen will man denn an die Stelle setzen? Russland ist immer autokratisch regiert worden. Und wenn wir heute Peter den Großen bewundern, der wirklich eine Persönlichkeit war … zart war der nicht.

Sie haben Putin persönlich kennengelernt, was haben sie denn für einen Eindruck von ihm gewonnen?

Ja, man merkt ihm schon seine Vergangenheit als Geheimdienstoffizier an. Aber er ist höflich, er ist gut informiert und beantwortet alle Fragen.

Sie haben 2006, also vor acht Jahren, eine Dokumentation gedreht unter dem Titel „Russland im Zangengriff“, da schildern sie, wie Russland sich eingekreist und bedroht sieht und warum die Ukraine so unverzichtbar ist für Russland, und da wollen wir uns mal kurz ihre Einschätzung von damals anschauen (Einspieler):

Man versetze sich in die Lage der russischen Patrioten. Die Nato dehnt ihren militärischen Einfluss über die willfährige Ukraine bis zum Don aus. In Fernost blickt Moskau voll Sorge aus seiner menschenleeren Taiga-Region auf die boomende Großmacht China jenseits des Amur. Dazu kommt innerhalb der eigenen Grenzen ein muslimischer Bevölkerungsanteil von zwanzig Millionen, der seine Identität im koranischen Glauben sucht.

Für Wladimir Putin ist der Abfall der Ukraine schwer erträglich. Jeder erinnert sich an die stürmische Begeisterung der Orangenen Revolution auf dem Maidan von Kiew, die dem Separatismus zum Sieg verhalf. Die Helden dieser national-ukrainischen Volkserhebung, an ihrer Spitze Präsident Wiktor Juschtschenko, haben seitdem ihr Prestige eingebüßt.

Gegengewicht und Kontrast zu Kiew bildet im Osten der Ukraine das Industrierevier Donbas mit der Stadt Donezk, die einmal Stalino hieß. In dieser Landschaft von Stahlwerken und Zechen ist die Erinnerung an den großen vaterländischen Krieg längst nicht verblasst. Die Masse der Bevölkerung bekennt sich zur russischen Nationalität.

Nach dem Verlust der Ukraine sei Russland dazu verurteilt, ein überwiegend asiatisches Imperium zu werden. So frohlocken bereits einige einflussreiche Ideologen in Washington. Und viele Europäer schließen sich diesem neuen Drang nach Osten der Nato an. Aber zumindest die Deutschen müssten wissen, dass nur dreihundert Kilometer von dieser Grenze des Donbas entfernt eine Stadt liegt, die Stalingrad hieß. Und noch einmal 100 Kilometer nach Osten beginnt das Territorium der zentralasiatischen und überwiegend muslimischen Republik Kasachstan.

Man muss das nochmal sagen, diese Analyse ist 8 Jahre alt, stammt von 2006, aber die gilt eins zu eins noch heute …

Das ist mir meistens in meinem Leben passiert, ohne Eitelkeit (schmunzelt). Aber im Falle von Europa muss man wirklich sagen, die Europäer müssen im Grunde darauf bedacht sein, ihre Kräfte zu konzentrieren und nicht zu expandieren. Rumänien und Bulgarien waren wahrscheinlich schon zu viel. Jetzt diese riesige Ukraine noch dazu, das wäre völliger Unsinn.

Und also die amerikanische Staatssekretärin hat gesagt hat, „Fuck the EU“, da hat das im Grunde einem vernünftigen Reflex entsprochen, so bitter das für uns auch klingt.

Die Russen sind ja in Sorge, dass das, was der Westen hier in der Ukraine macht, keine selbstlose Unterstützung einer Freiheitsbewegung ist, sondern in Wirklichkeit Teil einer Strategie der Nato, der USA, der EU, die Grenzen der Nato bis nach Georgien, bis in die Ukraine auszudehnen und am Ende Russland in die Knie zu zwingen. Ist da etwas dran an dieser Furcht der Russen?

Da ist zweifellos etwas dran. Ich sage nicht, dass alle diese Meinung vertreten, es gibt auch in Washington hochintelligente Leute. Aber im Moment sieht es wirklich so aus, als sei man darauf aus, die Russen zurückzudrängen, man spielt „Kalter Krieg“ auf einmal, man redet von Sanktionen, was für Europäer völlig blödsinnig ist.

Wir würden unter diesen Sanktionen mehr leiden als die Russen. Es ist also wirklich ein Spiel im Gange, was geradezu grotesk ist. Und dieses ständige Putin-Bashing, auch China-Bashing. Gegen China zieht man auch zu Felde, gegen den Iran auch, aber was hat uns der Iran getan? Die Europäer verschätzen sich völlig in ihrer Rolle, sie sind keine Weltmacht. Wir haben in der Welt nichts mehr zu sagen.

Aber was bedeutet denn das dann konkret? Sollen wir einfach zuschauen, wenn Putin da mit seiner Armee in der Ukraine schaltet und waltet?

Er schaltet und waltet ja nicht, die Ukraine ist ja zum großen Teil russisch. Dann soll man eben die Spaltung machen, eine Trennung machen, eine Föderation machen, was auch immer. Aber jedenfalls man muss ja nicht die Russen der Ukraine zwingen, auf ihre Sprache zu verzichten, was man ja verlangt hat.

Ukraine 2022 - ein Krieg mit Vorgeschichte - Die »Orangene Revolution« - Peter Scholl-Latour (2014)

An dieser Stelle wird ein externer Inhalt von YouTube angezeigt. Beim Anzeigen können personenbezogene Daten an den Anbieter übermittelt werden. Der Anbieter dieser Seite hat keinen Einfluss auf diese Datenübertragung. Mit dem Klick auf "Video anzeigen" erklären Sie sich damit einverstanden und die externe Verbindung wird hergestellt. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Einen Kommentar schreiben

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen. Aufgrund von zunehmendem SPAM ist eine Anmeldung erforderlich. Wir bitten dies zu entschuldigen.