Ich bin mir sicher: Die Russen sind zum jetzigen Zeitpunkt zu einer Einigung bereit

„Putin ist aber schuld“ – Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation des Riesenreichs

von Jan-Heie Erchinger (Kommentare: 9)

Ich bin ernsthaft erschüttert über diese Falken-Einstellung vieler Mitbürger, bei denen es Konsens zu sein scheint, dass der Konflikt mit westlichen Waffen gelöst werden müsse und gelöst werden könnte.© Quelle: Pixabay / S. Hermann / F. Richter

Wir müssen uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einmischen, diesen wahnsinnigen Krieg endlich zu beenden. Aber welche Mittel sind das: Waffenkammer oder Verhandlungstisch?

So wie in vielen modernen Ehen Menschen mit ihren Einzelinteressen nicht mehr zu Kompromissen fähig sind, sind heute viele unserer pseudo-modernen West-Politiker vollkommen abgekoppelt von einer klugen Einschätzung der Realität. Das zeigt sich nicht nur an Themen wie Migration und Klima-Krisen-Transformations-Macht-Übertreibungs-Fundamentalismus – nein, heute zeigt es sich leider auch beim Thema Krieg. Es sind Fehleinschätzungen der Realität, die ganz konkret täglich zu immer mehr Toten führen. Das ist leider das Gegenteil von „pragmatisch-realistisch“.

Und wenn jetzt ein besserwissender Unkluger gleich wieder platt und unterkomplex unterstreichen will, dass Putin doch schuld sei, er hätte angefangen und sei böse, dann antworte ich ihm: Klar ist Putin auch schuld, sogar stark schuld an der gruseligen Eskalation mit bisher einhunderttausend Toten. Aber was haben die Menschen davon, dass ein Allwissender das täglich tausendmal so einschätzt und jeden Tag inflationär hundertmal wiederholt?

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Nichts haben sie davon, wenn man Putin den lieben langen Tag zum Teufel auf Erden erklärt. Deswegen wird in der Ukraine im Krieg nicht weniger gestorben.

Die Russen und besonders Putin stehen mit dem Rücken zur Wand, ich bin mir sicher, dass sie momentan Verhandlungen aufnehmen würden. Was dabei herauskommt, weiß niemand, aber nach den Erfahrungen in Kiew, wo Putin konkret gezeigt wurde: Hier geht es nicht so einfach weiter und wegen der aktuellen Situation an der Front haben realistische Verhandler eine echte Chance, den Frontverlauf einzufrieren.

Wer dann rückblickend mehr davon hätte, ist zu diskutieren. Aber nach so vielen Toten und einer massiven Zerstörung auf beiden Seiten muss jetzt ein Waffenstillstand vereinbart werden. Eine Lehre der Weltbeobachtung lautet: Der Klügere gibt nach. Vor allem, wenn Opfer und Schäden in keinem vertretbaren Verhältnis mehr zum politischen Ziel stehen.

Und mit Nachgeben meine ich in diesem Fall nicht das immer wieder unterstellte „sich Ergeben oder Unterwerfen!“ Ich warte auf eine wirkliche Diplomatie- und Verhandlungsbereitschaft und ein konkretes Angebot des Westens zu Gesprächen, verbunden mit der Bereitschaft, vertretbare Kompromisse einzugehen.

Das Argument, damit angeblich über die Köpfe er Ukrainer selbst Verhandlungen anzumahnen und zu befürworten, kann ich nicht gelten lassen. Natürlich müssen sie federführend dabei sein.

Wenn aber Maximalpositionen verlautbart werden, beispielsweise, dass die Russen komplett aus den besetzten Gebieten raus sein müssten, bevor gesprochen werden kann, dann werden Verhandlungen sehr unwahrscheinlich.

 

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Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) fordert just wieder mehr Panzer. Aber ich bin mir sicher, dann hätten wir eine noch viel schlimmere Eskalation. Ja, wir sind in der Zwickmühle. Und unsere Politiker lassen ein Bekenntnis zu Verhältnismäßigkeit der Mittel meist vermissen.

Ich höre da sehr wenig. Ich nehme nur Sahra Wagenknecht, Richard David Precht und Harald Kujat wahr. Sind andere mit solchen Position unterrepräsentiert oder haben keine Lust mehr, sich am Diskurs zu beteiligen?

Und das in unserem Deutschland, mit unserer Vergangenheit. Wie unterkomplex, wie unfähig, wie unchristlich, wie schlecht.

Dass die russische Politik brutal und falsch und alles andere als friedlich ist, ist ersichtlich und offenbar. Diese Entwicklung darf man aber nicht ohne die Vorgeschichte sehen. Denn so findet man nicht zu einer konstruktiven Politik.

Ab wann geht man denn mit den Russen in eine realistische und friedenspolitische Kommunikationsphase? Nochmal mit Anerkennung des Mutes und der Kraft vieler ukrainischer Militärs: In Kiew hat sich Putin verbrannt – er wurde dort desillusioniert –  ein einfacher Durchmarsch hat nicht geklappt.

Ich bin mir sicher, dass die Russen zum jetzigen Zeitpunkt einer Einigung gegenüber aufgeschlossen wären. Sogar aufgeschlossen sein müssten. Lawrow hatte konkret gesagt, die Russen seien zu Verhandlungen mit den USA bereit. Darauf wird eher nicht eingegangen. Ich bekomme es jedenfalls nicht mit. Liegt es daran, dass er mit den USA verhandeln will? Ist das der Affront?

Ich höre vor allem, dass die Ukraine-Armee siegreich sei. Der Fokus liegt auf Waffen liefern und weiterkämpfen beziehungsweise kämpfen lassen. Das sagt sich auch leicht aus dem West-Wohnzimmer.

Erich-Maria-Remarque schrieb in „Im Westen nichts Neues“: „Weshalb ist dann überhaupt Krieg?" fragt Tjaden . Kat zuckt die Achseln. „Es muss Leute geben, denen der Krieg nützt.“ „Na, ich gehöre nicht dazu", grinst Tjaden. “Du nicht, und keiner hier."

Aber einfach immer weiter kämpfen? Das ist inakzeptabel. Viele unserer Mitbürger sind zu hypnotisiert und durch Medien-Kampagnen gesteuert und aufgeladen, das mal wahrzunehmen. Was ihnen fehlt, ist echte Herzenswärme oder Lebenserfahrung oder wenigstens ein Gefühl für Verhältnismäßigkeit.

Was sind die Lehren des 20. Jahrhunderts? Philosoph Richard David Precht formuliert gute Gedanken. Und er bekommt dafür medial kräftig um die Ohren.

Der ehemalige Liebling unserer Leitmedien ist durch seine kritische Haltung zu Waffenlieferungen und mit seiner scharfen Medienkritik („Die Vierte Gewalt“) bei böhmermannartigen Hetzfrauen wie Carolin Kebekus in Ungnade gefallen und wird in einem Song von ihr wie ein hässlicher Neonazi oder was auch immer behandelt:

„Richard David Precht (Ey!), Richard David Precht
Ich geb 'n Fick auf deine Story und 'n Fick auf deinen Text
Richard David Precht, Richard David Precht
Geb 'n Fick auf deine Story, denn nichts an dir ist echt“

Sahra Wagenknecht hat jüngst zum Ukraine-Thema wieder ein augenöffnendes Video veröffentlicht. Solche Statements müssten in jeder Oberstufe Pflichtstoff sein. Auch Harald Kujat hat auf ntv echte Vernunft eingefordert. Wird das von Baerbock oder Scholz aufgegriffen? Oder kommen solche Signale von Biden? Nein.

Wenn der Westen über seinen Schatten springen würde, könnten viele Menschenleben gerettet werden. Politische Entwicklung / Demokratisierung können und werden dann über die Zeit entstehen. Wandel durch Annäherung, Normalisierung, Handel, Kommunikation.

Klar gibt es keine Garantie.

Aber erst einmal ist es wichtig, dass das Sterben endet. Stattdessen steht eine Offensive bevor, die gefühlt abends bei Markus Lanz in den Kuschelsesseln mit Applaus und Anfeuerungen beklatscht wird. Im Moment bin ich ernsthaft erschüttert über diese Falken-Einstellung vieler Mitbürger, bei denen es Konsens scheint, dass der Konflikt mit westlichen Waffen gelöst werden müsse und gelöst werden könnte. Was für eine Pro-Risiko-Verantwortungslosigkeit des Denkens.

Der Nachrichtensprecher im NDR verlautbarte letzte Woche mit siegestrunkenem Timbre, dass die Mehrheit der Staaten in der UNO die russischen Annexionen ablehnt. Natürlich lehnt die Mehrheit der Staaten die völkerrechtswidrigen Annexionen ab.

Wir hatten uns eigentlich in der Welt gegen Grenzverschiebungen ausgesprochen, eher für optionale Autonomiezulassungen innerhalb fester Länderstrukturen. Aber wer hatte das noch vor ein paar Jahren anders gehandhabt? Genau, der vermeintlich immer völkerrechtskonform agierende Westen im Kosovo. Die Prinzipienreiter und Waffenstillstandsablehner scheinen die Rechnung aufzumachen, dass Putin sein Gesicht verlieren muss, koste es, was es wolle.

„Koste es, was es wolle“ ist der Baerbock-Hofreiter-Strack-Zimmermann-Röttgen-Blick auf die Ukraine. Weil es ja angeblich so haltungsstark und innovativ ist, immer nur darauf zu verweisen, dass Putin der Schuldige ist (was ja zutrifft), sollen weiter Menschen sterben? Viele junge Männer auf beiden Seiten?

Eine Metaebene dazu geht so: Ich bin mir sicher, Jesus findet das unreif, brutal und unchristlich.

Ich glaube nicht, dass Russland die gesamte Ukraine, geschweige denn noch Polen oder das Baltikum angreifen wird. Nur Beten gegen die Besatzer hilft nicht – ich bin kein radikaler Pazifist. Aber es muss immer wieder abgewogen werden. Und vor allem – es sollten immer wieder Gesprächsangebote gemacht werden. Aber wenn Sie mich konkret fragen, wie der Wahnsinn zu beenden ist? Dann muss ich noch konkreter antworten. Aber gibt es überhaupt Antworten?

Ich hoffe, dass die Amerikaner die konkreten Gesprächsanfragen, von Außenminister Lawrow formuliert, konstruktiv aufnehmen. Es muss auf neutralem Boden, beispielsweise in der für so etwas bewährten Schweiz, Gespräche geben. Vielleicht sogar in einer Art 2-plus-2-plus-4-Format mit Amerika, Russland, der Ukraine, den Ukraine-Separatisten, China, der EU und beispielsweise der Türkei und Belarus.

Träum weiter! Ja, der Einwand ist berechtigt. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben.

Was soll Russland jetzt machen? Russland muss weiter Verhandlungen anbieten. Putin muss einsehen, dass die Ukraine dank westlicher Unterstützung uneinnehmbar ist.

Was soll die Ukraine machen? Es widerstrebt mir, der Ukraine Tipps zu geben, aber wenn ich hier solche Friedensreden schwinge, muss ich auch dazu etwas sagen, wünschen und formulieren:

Ich habe den Eindruck, dass die Ukraine mit den Gebieten, die aktuell unter ihrer Kontrolle sind im Vergleich zur Perspektive zu Beginn des Krieges – als Präsident Selenskyj noch Verhandlungen anbot –- gut positioniert sind. Aus dieser Perspektive kann man in Verhandlungen gehen, um das Sterben beenden zu können. Noch mehr Tote und mehr Zerstörung darf doch keine Option mehr sein.

Was sollen die USA machen? Die USA sollten kritisch mit sich selbst ins Gericht gehen und bitte nachvollziehen, auf welche Weise diese Tragödie mit der US-Politik der letzten Jahre verbunden ist. Die USA sollten anerkennen, dass im Moment die Möglichkeit besteht, mit dem russischen Regime einen Waffenstillstand auszuhandeln. Hilfreich wäre es hier, sich als USA einmal vorzustellen, sie würden alle in Europa leben.

Was soll die EU machen? Ich bin davon überzeugt, dass sich die EU auf friedenspolitische und diplomatische Arbeit konzentrieren muss, anstatt nur ihre Waffenschränke Richtung Ukraine leerzuräumen. Nein, es ist nicht zielführend, einfach nur 1:1 die Selenskyj- und USA-Sicht der Dinge zu übernehmen. Leider muss man mit aller noch möglichen Empathie versuchen, auch den Blickwinkel Putins und seines Regimes einzunehmen. Nur so kann es Deeskalation geben.

Noch eine Frage: Was nutzen hier Forderungen, wenn man sie nicht durchsetzen kann? Wie soll man diese Forderungen durchsetzen?

Vieles kann durchgesetzt und in Gang gebracht werden. Viele Länder einschließlich Chinas und der Türkei, aber auch insbesondere wir Deutsche haben großes Interesse an einer mittelfristigen Erholung der Weltwirtschaft.

Friedenspolitik tut not: Deeskalation, Waffenstillstand mit oder ohne Schuld. Die immerwährende Schuldbetonung ist alleine nicht zielführend. Realpolitik ist eine echte Chance. Welche Chancen gibt es denn noch?

 

(Quelle: privat)

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