Der komplizierte Versuch einer Bestandsaufnahme

Rückzug der USA aus dem Ukraine-Desaster und der verlorene Frieden von 2022

von Corinne Henker (Kommentare: 4)

Ein provozierter völkerrechtswidriger Angriff?© Quelle: Pixabay / RescueWarrior

Ein im Frühling 2022 zwischen der Ukraine und Russland verhandelter Frieden nahm nach einem Besuch von Boris Johnson in Kiew ein jähes Ende. Das Wall Street Journal diskutierte diesen Besuch vor einigen Tagen erneut. Das 17-seitige Dokument, welches die Verhandlungen besiegeln sollte, wurde dabei nicht publiziert.

Wichtigster Punkt des Dokuments: Die Ukraine sollte zu einem dauerhaft neutralen Staat werden, der sich nicht an Militärbündnissen beteiligt. Ein EU-Beitritt wäre also möglich, ein NATO-Beitritt nicht. Die Stationierung ausländischer Waffen wäre untersagt. Auch das ukrainische Militär sollte reduziert werden.

Putin forderte eine Reduktion auf 85.000 Soldaten, 342 Panzer und 519 Artilleriegeschütze. Die ukrainische Seite wollte 250.000 Soldaten, 800 Panzer and 1.900 Artilleriegeschütze. Außerdem wollte Russland die Reichweite ukrainischer Geschosse auf 40 Kilometer reduzieren.

Die Krim würde unter russischer Kontrolle bleiben, der Status des Donbass sollte direkt zwischen Putin und Selenskyj ausgehandelt werden - dazu kam es bekanntlich nie. Russisch sollte neben Ukrainisch als gleichberechtigte Amtssprache anerkannt werden.

Als Garantiestaaten für das Abkommen wurden die USA, Großbritannien, China, Frankreich und Russland genannt. In ihrer Verantwortung sollte es liegen, die Neutralität der Ukraine zu verteidigen, wenn das Abkommen verletzt wird. Gleichzeitig sollten alle internationalen Verträge, die mit einer dauerhaften Neutralität der Ukraine unvereinbar wären, gekündigt werden. Die internationalen Sicherheitsgarantien sollten nicht für die Krim und den dortigen Schwarzmeerhafen Sewastopol gelten. Russland wollte Belarus als zusätzlichen Garantiestaat hinzufügen, die Ukraine die Türkei.

An einer deutschen Vermittlung war offensichtlich niemand interessiert. Inzwischen dürfte jedem klar sein, warum.

Ungeklärt blieben die Konsequenzen im Falle eines Angriffs auf die Ukraine. Russland verlangte, dass sich alle Garantiestaaten über ihre Reaktion einig sein müssten - unmöglich, wenn Russland selbst angreifen sollte. Die Ukraine wollte die sofortige Einrichtung einer No-Fly-Zone und Waffenlieferungen durch die Garantiemächte. In diesen Punkten war eine Einigung also (noch) nicht absehbar.

Laut WSJ ist dieses Dokument ein Beweis für Putins Phobie gegenüber dem Westen, der die Ukraine zu einem anti-russischen Bollwerk aufbauen wolle, um letztlich auch Kontrolle über Russland zu gewinnen.

Aber liegt Putin damit wirklich so falsch? Ein kürzlich erschienener Artikel der New York Times über CIA-Spionage-Basen in der Ukraine scheint ihm recht zu geben.

Das CIA-Programm startete bereits 2014, kurz nachdem die prowestliche Regierung in Kiew an die Macht gekommen war. Die ukrainischen Stellen lieferten der CIA nachrichtendienstliche Informationen über Russland, es wurden CIA-Stützpunkte in der Ukraine eingerichtet, um Aktivitäten gegen Russland zu koordinieren und ukrainische Eliteeinheiten auszubilden. Die CIA lieferte dabei nicht nur Informationen, sondern unterstützte Provokationen und Tötungen prorussischer Politiker in der Ostukraine. Interessantes Detail am Rande: Unter Donald Trump wurden diese fragwürdigen Aktivitäten noch intensiviert.

Victoria Nuland, von 2013 bis 2017 Assistant Secretary of State im US-Außenministerium, von 2021 bis 2023 Staatssekretärin für politische Angelegenheiten und ab 2023 geschäftsführende US-Vizeaußenministerin, spielte eine besonders brisante Rolle in der US-amerikanischen Ukraine-Politik.

Der erste große Skandal war 2014, als ein Telefonat zwischen Nuland und dem US-amerikanischen Botschafter in der Ukraine, Geoffrey R. Pyatt, abgehört und veröffentlicht wurde. Die beiden unterhielten sich offen darüber, wie man den favorisierten Arsenij Jazeniuk als Ministerpräsidenten der Ukraine installieren könne (was dann auch geschah).

Dabei wollte man auch UN und EU einspannen, wobei sich Nuland mit der zögerlichen EU sehr unzufrieden zeigte („Fuck the E.U.“).

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Während des aktuellen Ukraine-Krieges musste Nuland bei einer Senatsanhörung zugeben, dass es in der Ukraine "biological research facilities“ (biologische Forschungseinrichtungen) gäbe, die besser nicht in die Hände der Russen fallen sollten.

Und dann wäre da noch der „Morgenthau Plan“ für Russland des US-amerikanischen Thinktanks Jamestown Foundation, der das „Post-Putin-Russland“ „komplett dekolonisieren“ und entlang ethnisch-religiöser Linien in bis zu 83 „föderative Einheiten“ aufspalten will.

Zwar lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich bei dem seit zwei Jahren währenden Krieg zweifellos um einen völkerrechtswidrigen Angriff handelt, unprovoziert war er aber gewiss nicht.

Und die aktuelle Situation? Der Krieg dauert nun schon mehr als zwei Jahre, die Zahl der Opfer geht in die Hunderttausende. Die russischen Truppen haben Mariupol, Bachmut/Artjomowsk und kürzlich Awdejewka erobert und rücken stetig weiter vor. Der Ukraine gehen Soldaten und Munition aus, die westlichen Verbündeten können und wollen die Verluste nicht ausgleichen.

Die Freigabe weiterer Milliarden US-Dollar für die Ukraine wird vom amerikanischen Repräsentantenhaus regelmäßig abgelehnt. Macron spricht zwar öffentlichkeitswirksam über die Entsendung von Bodentruppen, bisher hat sich Frankreich jedoch nicht mit tatkräftiger Unterstützung der Ukraine hervorgetan.

Im Bundestag streitet man über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, während Luftwaffen-Offiziere bereits deren Einsatz planen - und die deutsche Beteiligung daran verschleiern wollen. In dem abgehörten Gespräch wurde allerdings auch erwähnt, dass man nicht daran glaubt, dass die Taurus den Kriegsverlauf maßgeblich ändern könnten. Alles in allem steht die Ukraine jetzt in einer schlechteren Position da als im April 2022, als man das russische Friedensangebot ablehnte.

Und es gibt eine neue interessante Entwicklung in den USA: Victoria Nuland musste als Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium zurücktreten, ihr vorläufiger Nachfolger wurde John Bass. Bass war als US-Botschafter in Afghanistan (2017 bis 2020) eigentlich schon entlassen, als er im August 2021 notfallmäßig nach Kabul zurückkehren musste, um den Abzug der Amerikaner zu organisieren.Sein Nachfolger Ross Wilson war dazu offenbar nicht in der Lage.

Ist diese Ernennung möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die USA sich jetzt aus dem Engagement für die Ukraine zurückziehen wollen?

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