Von RA Dirk Schmitz MA
Die gesetzliche Unfallversicherung – gerne als sozialstaatliche Errungenschaft gepriesen – entpuppt sich in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zunehmend als eine Ansammlung von Ausschlussklauseln, die jeder private Versicherer in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen vor das Landgericht bringen dürfte – um dort krachend zu scheitern.
Die §§ 307 ff. BGB lassen grüßen. Doch die Berufsgenossenschaften dürfen das. Schließlich geht es hier nicht um eine „Versicherung“ im zivilrechtlichen Sinn, sondern um einen pseudokollektiven Schutzschirm, der in der Praxis reihenweise nicht schützen soll. Teil eines parasitären Bürokratie-Monsters.
Beginnen wir mit dem Klassiker: der Gang zum stillen Örtchen neben dem Büro. Wer meint, dieser sei „natürlich“ Teil der Arbeit, irrt. Das BSG hält seit Jahrzehnten daran fest, dass der Toilettengang eine „eigenwirtschaftliche Verrichtung“ darstellt – mithin privat und nicht versichert (vgl. BSG, Urt. v. 2.4.2009 – B 2 U 23/08 R). Der Versicherungsschutz endet, so das LSG Baden-Württemberg, bereits an der Außentür der Toilettenanlage (Urt. v. 30.4.2020 – L 10 U 2537/18). Wer dann beim Hinsetzen, Aufstehen oder Händewaschen stürzt: Pech gehabt!
Hätte die Berufsgenossenschaft jemals selbst richtige Juristen beschäftigt, die mehr als den eigenen Kommentarband kennen, wäre aufgefallen, dass eine private Kranken- oder Unfallversicherung mit einem solchen Ausschluss sofort eine Abmahnung der Verbraucherzentralen kassieren würde.
Kaffeeholen: Genuss oder Arbeitspflicht?
Das jüngste Highlight aus Kassel: BSG, Urt. v. 24.9.2025 – B 2 U 11/23 R:
Eine Verwaltungsangestellte stürzte beim Gang zum Kaffeeautomaten, weil der Boden frisch gewischt war. Kaffeeholen, so das BSG, sei grundsätzlich nicht unfallversichert, weil Kaffee ein „Genussmittel“ sei – im Gegensatz zu Wasser oder dem Mittagessen. Kaffee trage nicht zur „stabilen Leistungsfähigkeit“ bei. Bei dem Satz will man jedem Richter am Bundessozialgericht gerne eine ganze Kaffeekanne am Nachmittag auf die Robe kippen.
Aber – und hier offenbart sich die kafkaeske Dogmatik – weil der Sturz im obigen Fall durch eine „besondere betriebliche Gefahr“ - nämlich den frisch gewischten Boden im Sozialraum - ausgelöst wurde, sei der Unfall „gerade noch“ versichert. Kurz gesagt: Nicht der Kaffee rettet den Schutz, sondern die Pfütze.
Das LSG Sachsen-Anhalt sah es ähnlich (Urt. v. 22.5.2025 – L 6 U 45/23): Ein Bauarbeiter verschluckte sich in einer betrieblich angeordneten Besprechung an seinem Kaffee und stürzte. Weil der Kaffee vom Arbeitgeber selbst gestellt wurde, sei der Unfall versichert. Hätte er die Tasse privat von zu Hause mitgebracht, wäre er an seinem „Privatkaffee“ erstickt.
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Ihre Unterstützung zählt
Privates Telefonat: Wer in der Arbeitszeit kurz mit dem Ehepartner telefoniert und auf dem Weg zum Handy stolpert, ist nicht geschützt.
Raucherpause: Wer E- oder „Echt“-Zigarette genießt, tut selbst den Weg in die Raucherecke auf eigenes Risiko.
Mittagspause: Das Essen selbst ist nicht versichert – nur der Weg zur Kantine (aber auch nur bis zur Tür). Sticht man sich in der Kantine mit der Gabel in die Hand: privat.
Toilettensturz im Krankenhaus: Selbst Patientinnen, die im Klinikbetrieb unfallversichert sein sollen, fliegen aus dem Schutz, sobald sie den Toilettenraum betreten (BSG, Beschl. v. 17.6.2025 – B 2 U 6/23 R). Nur wenn die fehlenden Haltegriffe eine betriebliche Gefahr darstellen, kann man den Schutz „retten“.
Die Berufsgenossenschaften und die Sozialgerichte haben ein Dogma geschaffen: Alles, was menschlich unvermeidlich ist – Essen, Trinken, Atmen, Verdauen – gilt als Privatvergnügen. Versicherungsrechtlich macht das System damit genau dort Halt, wo es am nötigsten wäre.
Eine private Pflichtversicherung würde mit solchen Ausschlüssen scheitern. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB verbietet AGB, die wesentliche Rechte und Pflichten so einschränken, dass der Vertragszweck gefährdet ist. Wenn die „Unfallversicherung“ genau jene Unfälle ausschließt, die typischerweise am Arbeitsplatz geschehen – Kaffeeholen, Toilettengang, Kantinenbesuch –, dann ist der Vertragszweck, nämlich Schutz am Arbeitsplatz, ad absurdum geführt.
Die Lösung liegt auf der Hand: Schafft die Berufsgenossenschaften in ihrer jetzigen Form ab und ersetzt sie durch eine private Pflichtversicherung mit klaren, transparenten Bedingungen. Kein Mensch versteht, warum der Weg zum Klo „privat“ sein soll, der Weg ins Büro aber „versichert“.
Kein Mensch versteht, warum der Sturz an der Kaffeemaschine versichert ist, weil der Boden nass war, nicht aber Ausschluss, weil die Koffeinzufuhr nicht zur Leistungsfähigkeit beiträgt.
Arbeitgeber sparen sich so schwachsinnige Berufsgenossenschaften und viel Geld. Die versicherten Arbeitnehmer und Dritte bekommen endlich einen Schutz, der diesen Namen verdient. Bis dahin gilt: Wer in Deutschland arbeitet, sollte lieber mit Thermoskanne, „Pissflasche“ unterm Tisch mit Katheder und Trockenfutter in der Schublade vorsorgen – alles andere ist „Privatvergnügen“.
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Kommentar von Heidi Thiemann
Hilfreicher Artikel, der einer ehemals freiwillig BG- (und bei Dreharbeiten verunfallten) versicherten Medienschaffenden leider nicht fremd ist!
Sehr schön geschrieben, Herr Schmitz! Aber gilt das alles auch im Umgang mit den eigenen Mandanten? Ich warte verzweifelt auf eine Antwort von Ihnen in einem existenz-bedrohenden Verfahren, der durch anwaltliche/gerichtliche Fehlleistungen schon mal fast verloren war und nun in der Berufung der Anwaltspflicht unterliegt - was macht der Mandant eigentlich, wenn der RA sich wochenlang incommunicado stellt? für den entsprechenden Ratschlag wäre ich ausserordentlich dankbar...
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Kommentar von T S
"Kaffee trage nicht zur „stabilen Leistungsfähigkeit“ bei"? Wer das glaubt kann nur Bürokrat sein, denn die verstehen nicht was die Leute alle gegen sie haben - sie tun doch nichts! Zumindest nichts Nützliches.
Viel gefährlicher als Kaffee, Kippen- und Klopause ist aber das Treppengeländer, genauer gesagt dessen Nichtbenutzung: Kann in manchen Betrieben zur Abmahnung führen - die man dann dankend annehmen kann, als Hinweis in was für einem grotesken Saftladen man seine Zeit vergeudet.
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Kommentar von Abraham Isral
"Kein Mensch versteht, warum der Sturz an der Kaffeemaschine versichert ist, weil der Boden nass war, nicht aber Ausschluss, weil die Koffeinzufuhr nicht zur Leistungsfähigkeit beiträgt."
Doch doch. Ich verstehe es sogar sehr gut. Ein rutschiger Boden stellt eine Gefahr dar. Der Kaffee eher nicht. Hätte die Kaffeemaschine einen elektrischen schaden, so daß der willige Konsument mal so nebenbei 400V gebrüht bekommt, dann ist er wieder versichert, weil der Kaffeeautomat von der Firma gestellt wird und der Kaffeewillige nicht damit rechnen muß, daß er als Erdung dient.
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Kommentar von Abraham Isral
Ich finde es vollkommen richtig, daß private Dinge während der Arbeitszeit nicht versichert sind. Manche Menschen erwarten eine Vollkaskoversicherung für Alles was sie tun. Das ist falsch. Das Leben ist lebensgefährlich. Schon vor der Geburt. Kleines Beispiel: Eine werdende Mutter stürzt. Das Ungeborene kommt deshalb behindert auf die Welt. Kann das behinderte Kind dann die Mutter verklagen? Das wäre nur logisch, wenn man den Vollkaskogedanken für richtig hält. Der Mensch ist zur Eigenverantwortung verpflichtet. Wenn so blöd ist und haut sich in der Kantine die Gabel in die Hand... was solls... selbst schuld. Daraus lernt er und passt das nächste Mal auf. Wenn er aber lernt, daß er für seine ungezügelte Dämlichkeit auch noch Andere verantwortlich machen kann, dann wird es so einen Trottel reizen sich selbst zu verletzen und krank zu machen, bzw. Schadensersatz zu fordern.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Wenn ein Kranführer auf dem Weg zur Toilette sich durch einen Sturz beim Absteigen verletzt ist es etwas Anderes als beim Bürohengst, der sich die Schere auf den Fuß fallen läßt.
Eigenverantwortlich Menschen kommen gar nicht auf solche abstrusen Gedanken. Außer man ist Amerikaner, trocknet die Katze in der Mikrowelle, was natürlich zum schrecklichen Tod der Katze führt und verklagt anschließend den Produzenten der Mikrowelle, weil in der Bedienungsanleitung nicht explizit drin steht, daß man Haustiere NICHT in der Mikrowelle trocknen darf. Außer man will sie anschließend essen.