Skandalöse Verzerrung oder berechtigte Kritik?

Alles zurück auf Anfang: Die Wahrheit hinter Reichelts Angriff auf das Abtreibungsgutachten

von Alexander Wallasch (Kommentare: 8)

Welche politische Agenda wirkt mit?© Quelle: Nius/Achtung Reichelt, Screenshot

Julian Reichelt hat das Gutachten von Frauke Brosius-Gersdorf gelesen und behauptet weiter, die Juristin befürworte Abtreibungen bis zur Geburt. Eine vergleichende Analyse mit Hilfe von KI zeigt mehr Polemik als Skandal.

Die Debatte um die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin bleibt spannend. Sah heute vormittag noch danach aus, dass der für seine scharfe Kritik an der Juristin vielgescholtene Nius-Chef Julian Reichelt einen Punkt gemacht hat, als er das Gutachten von Brosius-Gersdorf analysiert und erklärte, dass Brosius-Gersdorf die Unwahrheit sagt, zeigt jetzt eine unter Mithilfe von KI (Neutralitätseffekt) erstellte Gegenüberstellung von Reichelts mit Brosius-Gersdorfs Teil am Gutachten, dass der Journalist Aussagen der Juristin aus dem Kontext gerissen, missinterpretiert, verdreht und irreführend dargestellt hat.

Aber warum? Wirkt hier eine politische Agenda mit? Welche?

Am 17. Juli 2025 veröffentlichte Julian Reichelt auf X eine scharfe Kritik am Gutachten der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, insbesondere an der Rolle von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf.

Reichelt behauptet, das Gutachten, das im Auftrag von Bundesfamilienministerin Lisa Paus und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erstellt wurde, plädiere für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur Geburt, definiere „Unzumutbarkeit“ als Rechtfertigung für Spätabtreibungen, beschreibe Tötungsmethoden wie Fetozid und palliative Geburt und sei „menschenfeindlich“.

Wir vergleichen Reichelts Behauptungen anhand des relevanten Abschnitts aus dem Gutachten (Kapitel 5: „Verfassungsrechtlicher Rahmen für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“, verfasst von Brosius-Gersdorf) und zeigen mit Hilfe von KI, dass Reichelts Darstellung die Aussagen des Gutachtens verzerrt und aus dem Kontext reißt.

Reichelt stellt vier zentrale Thesen auf:

Straffreiheit bis zur Geburt: Das Gutachten argumentiere ausführlich für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur Geburt, insbesondere unter dem Konzept der „Unzumutbarkeit“.

Unzumutbarkeit als Rechtfertigung: „Unzumutbarkeit“ umfasse auch psychosoziale Belastungen, wie die Verantwortung für das Kind nach der Geburt, die Spätabtreibungen rechtfertigen könnten.

Tötungsmethoden: Das Gutachten behandle ausführlich Methoden wie Fetozid und palliative Geburt und finde deren unklare gesetzliche Regelung „problematisch“, was eine Befürwortung impliziere.

Menschenfeindliche Agenda: Das Gutachten sei „menschenfeindlich“, und Paus und Lauterbach wollten Zustände schaffen, die sich nicht mit der Menschenwürde vereinbaren lassen.

1. Straffreiheit von Abtreibungen bis zur Geburt

Reichelt behauptet, das Gutachten plädiere für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur Geburt, gestützt auf das Konzept der „Unzumutbarkeit“.

Er zitiert:

„Auch in der Spätphase der Schwangerschaft muss der Gesetzgeber aber Ausnahmen vom Verbot des Schwangerschaftsabbruchs vorsehen und den Abbruch erlauben (Rechtmäßigkeit und Straffreiheit), wenn der Frau die Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar ist.“

Prüfung: Das Gutachten (Kapitel 5.3) stellt klar, dass in der Spätphase der Schwangerschaft, ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus, das Lebensrecht des Fetus grundsätzlich Vorrang vor den Grundrechten der Schwangeren hat. Es heißt:

„Der Fetus ist in dieser späten Schwangerschaftsphase grundsätzlich weiter bis zur Geburt auszutragen. Der Gesetzgeber muss den Schwangerschaftsabbruch in dieser Spätphase daher grundsätzlich als rechtswidrig erachten.“

Ausnahmen werden nur in Fällen der Unzumutbarkeit zugelassen, insbesondere bei medizinischen Indikationen, wenn die Schwangerschaft eine Lebensgefahr oder schwerwiegende Gesundheitsgefahr für die Schwangere darstellt. Diese Ausnahmen sind eng gefasst, und die Rechtswidrigkeit von Spätabtreibungen bleibt die Regel. Das Gutachten plädiert somit nicht für eine generelle Straffreiheit, sondern für eine differenzierte Abwägung in Ausnahmefällen.

Bewertung: Reichelts Behauptung ist irreführend. Er übertreibt die Bedeutung der Ausnahmen und ignoriert die klare Festlegung, dass Spätabtreibungen grundsätzlich rechtswidrig sind. Seine Darstellung suggeriert eine pauschale Liberalisierung, die im Gutachten nicht vertreten wird.

2. Unzumutbarkeit und psychosoziale Belastungen

Reichelt interpretiert „Unzumutbarkeit“ so, dass psychosoziale Belastungen, wie die Verantwortung für das Kind nach der Geburt, Spätabtreibungen rechtfertigen könnten. Er zitiert:

„Bei der medizinischen Indikation besteht allerdings Neuregelungsbedarf. Sie erscheint problematisch in Konstellationen, in denen die Gefahr für die Frau nicht in einem akut lebens- oder gesundheitsbedrohenden Befund besteht, sondern aus den Belastungen durch die Verantwortung für das Kind nach der Geburt resultiert.“

Prüfung: Das Gutachten (Kapitel 5.3) erwähnt Belastungen durch die Verantwortung für das Kind nach der Geburt im Kontext pränataldiagnostisch auffälliger embryo- oder fetopathischer Befunde, etwa schwerer, nicht heilbarer Krankheiten des Fetus, die zu einem frühen Tod oder einem leidvollen Leben führen könnten. Es wird angemerkt, dass die derzeitigen Kriterien für die medizinische Indikation unklar sind, und der Gesetzgeber aufgefordert, diese Problemlage zu überdenken.

Das Gutachten stellt dies als offene Frage, nicht als Empfehlung:

„Der Gesetzgeber sollte diese Problemlagen überdenken und die medizinische Indikation einschließlich der Fälle embryo- bzw. fetopathischer Befunde neu regeln.“

Es wird nicht vorgeschlagen, psychosoziale Belastungen generell als Rechtfertigung für Spätabtreibungen anzuerkennen. Stattdessen fokussiert das Gutachten auf spezifische medizinische Szenarien und die Notwendigkeit klarer gesetzlicher Kriterien.

Bewertung: Reichelt überdehnt die Aussagen des Gutachtens, indem er psychosoziale Belastungen als allgemeinen Rechtfertigungsgrund für Spätabtreibungen darstellt. Das Gutachten diskutiert solche Belastungen nur im Kontext schwerer fetaler Erkrankungen und als Teil einer juristischen Analyse, nicht als pauschale Freigabe.

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3. Tötungsmethoden (Fetozid und palliative Geburt)

Reichelt zitiert Passagen über Fetozid und palliative Geburt, um zu suggerieren, dass Brosius-Gersdorf diese Methoden befürworte und deren unklare gesetzliche Regelung kritisiere. Er schreibt:

„Mittels Fetozid kann demnach der Eintritt des Todes des Fetus als Folge der Einwirkung während der Schwangerschaft mittels intrauteriner tödlicher Mittelgabe (idR in das Herz) sichergestellt werden. Eine demgegenüber sog. palliative Geburt erfordert, das lebend geborene Kind palliativmedizinisch in den Tod zu begleiten.“

Prüfung: Das Gutachten (Kapitel 5.3) erwähnt Fetozid im Zusammenhang mit pränataldiagnostisch auffälligen Befunden und stellt fest, dass es „gesetzliche Kriterien“ fehlt, um zu beurteilen, wann ein Abbruch durch Fetozid bei extrauteriner Lebensfähigkeit zulässig ist. Es wird die Frage aufgeworfen, ob solche Belastungen durch Adoption abgewendet werden könnten. Die Erwähnung von Fetozid ist rein beschreibend und Teil einer Analyse der Rechtsunsicherheit: „Es fehlen gesetzliche Kriterien zur Beurteilung der Frage.“

Palliative Geburt wird im Abschnitt nicht explizit erwähnt, aber die Diskussion schwerer fetaler Erkrankungen deutet auf solche Szenarien hin. Das Gutachten fordert eine Neuregelung der Kriterien, ohne die Methoden selbst zu befürworten. Es kritisiert die fehlende gesetzliche Klarheit, was eine juristische Feststellung ist, keine normative Unterstützung.

Bewertung: Reichelt verdreht die neutrale juristische Analyse zu einer vermeintlichen Befürwortung von Fetozid und palliativer Geburt. Das Gutachten beschreibt bestehende Praktiken und deren rechtliche Unklarheit, ohne sie zu unterstützen.

4. Menschenfeindliche Agenda

Reichelt bezeichnet das Gutachten als „menschenfeindlich“ und unterstellt Paus und Lauterbach, Zustände schaffen zu wollen, die mit der Menschenwürde unvereinbar seien.

Prüfung: Das Gutachten (Kapitel 5) ist eine wissenschaftliche Analyse des verfassungsrechtlichen Rahmens für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Es berücksichtigt die Grundrechte des Embryos/Fetus (Lebensrecht ab Nidation, mögliche Menschenwürdegarantie) und der Schwangeren (Persönlichkeitsrecht, Leben, körperliche Unversehrtheit). Es schlägt eine differenzierte Abwägung vor: In der Frühphase soll der Abbruch rechtmäßig sein, in der Spätphase grundsätzlich rechtswidrig, mit Ausnahmen für Unzumutbarkeit. Dies entspricht europäischen Standards und ist keine radikale Liberalisierung. Die Unterstellung einer „menschenfeindlichen“ Agenda ist polemisch und nicht durch den Text gestützt. Brosius-Gersdorfs Kapitel betont den Schutz des Lebensrechts des Fetus, insbesondere ab extrauteriner Lebensfähigkeit.

Reichelts Vorwurf ist unbegründet. Das Gutachten ist als eine juristische Analyse zu verstehen, zeigt keine Merkmale einer politischen Kampagne und widerspricht der Idee einer „menschenfeindlichen“ Haltung.

Julian Reichelts Kritik am Gutachten von Frauke Brosius-Gersdorf ist in mehreren Punkten irreführend. Er übertreibt die Aussagen des Gutachtens, indem er eine generelle Straffreiheit von Spätabtreibungen suggeriert, obwohl diese grundsätzlich als rechtswidrig gelten.

Er verdreht die Diskussion über „Unzumutbarkeit“, indem er psychosoziale Belastungen als pauschalen Rechtfertigungsgrund darstellt, obwohl das Gutachten nur spezifische medizinische Szenarien anspricht. Die Erwähnung von Fetozid wird als Befürwortung verzerrt, obwohl das Gutachten lediglich Rechtsunsicherheiten analysiert.

Der Vorwurf einer „menschenfeindlichen“ Agenda ist nicht durch den Text gestützt. Brosius-Gersdorfs Analyse berücksichtigt sowohl das Lebensrecht des Fetus als auch die Grundrechte der Schwangeren, ohne die von Reichelt behauptete radikale Liberalisierung zu fordern.

Noch eine Anmerkung:

Das Gutachten erwähnt Belastungen durch die „Verantwortung für das Kind nach der Geburt“ im Kontext schwerer fetaler Erkrankungen und fordert eine Neuregelung der medizinischen Indikation. Ein Kritiker könnte argumentieren, dass diese Formulierung potenziell Spielraum für eine breitere Definition von „Unzumutbarkeit“ lässt, was Reichelts Befürchtung stützen könnte. Die Kritik zeigt jedoch, dass das Gutachten dies als offene Frage stellt, nicht als Empfehlung, und die Rechtswidrigkeit von Spätabtreibungen betont. Dennoch könnte die Unklarheit der Formulierung als Schwachstelle angesehen werden.

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