Die deutschen Vorboten einer rechten Republik Gilead

Die Dämonisierung der Debatte: Das Märchen von der „Abtreibung im neunten Monat“

von Alexander Wallasch (Kommentare: 12)

Was will Frauke Brosius-Gersdorf wirklich?© Quelle: Pixabay/Ri_Ya

Aktuell vor Abtreibungen im neunten Monat zu warnen ist ein übles Schreckgespenst mit nur einem Ziel: Die geltende Abtreibungsregel (zwölf Wochen) zu bekämpfen und der AfD in die Hände zu spielen indem man die AfD-Gegnerin Brosius-Gersdorf beschädigt.  

Seht ihr es auch schon? Massenkarawanen von Frauen, die mit prallen Bäuchen im neunten Schwangerschaftsmonat zur Abtreibung pilgern? Entschuldigung, dass ich es so drastisch schildere, aber was für ein Irrsinn ist das denn und wie teilweise auf widerlich hysterische Art und Weise reagieren hier irgendwelche offenbar vollkommen skrupellos gewordene Pseudochristen und AfD-Anhänger? Oder – Gott bewahre – beides in Personalunion?

Noch mal zu den Frauen im neunten Monat. Die tragen also ihr Kind bis zur letzten Sekunde aus, um es kurz darauf abtreiben zu lassen? Oder es handelt sich hier um verlotterte Prekariatsfrauen, die es überhaupt erst in der letzten Sekunde merken und dann panisch zum inzwischen legalen Todmacher flitzen?

Ich frage mich in der Debatte mittlerweile, in welcher düsteren Welt manche Mitbürger tatsächlich leben, solche Fantasien zu entwickeln, nur um abzuwenden, was viel wahrscheinlicher ist, nämlich dass Frauke Brosius-Gersdorf eine eingefleischte AfD-Hasserin ist und schon deshalb problematisch ist für den Posten einer Bundesverfassungsrichterin.

Ein zentraler Vorwurf, der in sozialen und neuen Medien und in konservativen Kreisen verbreitet wird, ist, dass Brosius-Gersdorf eine Befürworterin von „Abtreibungen bis zur Geburt“ sei und damit die Neutralität des höchsten deutschen Gerichts gefährde. Dieses Narrativ ist jedoch nicht nur faktisch falsch, sondern wird als politisches Kampfwerkzeug genutzt.

Fakt ist nämlich: Die rechtlichen und medizinischen Rahmenbedingungen für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland sind geregelt. Zwar sind Abtreibungen nach § 218 strafbar, aber nach § 218a sind Abtreibungen innerhalb der ersten zwölf Wochen nach Beratung straffrei, während spätere Abtreibungen nur unter strengen Bedingungen erlaubt sind: entweder aus medizinischen Gründen (Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Mutter) oder kriminologischen Gründen (z. B. Vergewaltigung).

Dagegen wird doch schon seit Jahrzehnten auch aus bestimmten radikalchristlichen Kreisen demonstriert. Und es sind diese Kreise, welche die Gunst der Stunde jetzt nutzen, um gegen Frau Brosius-Gersdorf zu agitieren, weil die Juristin wegen eines im Raum stehenden AfD-Verbots auch von ganz anderer Seite ungeeignet erscheint. Hier erhofft man sich offenbar einen Schulterschluss.

Aber Abtreibungen im neunten Monat (36.–40. Schwangerschaftswoche) sind und bleiben ausschließlich bei medizinischer Indikation möglich, etwa wenn das Leben der Mutter gefährdet ist oder der Fötus schwerste, lebensunvereinbare Anomalien aufweist. Auch Frauke Brosius-Gersdorf hat dazu nie etwas anderes behauptet! Alles andere ist eine unzulässige Interpretation.

Solche Eingriffe im neunten Monat sind im Übrigen extrem selten und allenfalls im Promillebereich aller Abtreibungen zu finden. Außerdem finden solche Abtreibungen nur in spezialisierten Kliniken statt, oft nach Beratung durch Ethikkommissionen. Zugegebenermaßen weiß man hier spätestens seit Alena Buyx, dass auch dringend reformierbar erschient.

Aktuell vor Abtreibungen im neunten Monat zu warnen bleibt davon unberührt ein übles Schreckgespenst mit nur einem Ziel: Die geltende Abtreibungsregel (12 Wochen) zu bekämpfen und aus den genannten Gründen Richtung AfD zu spielen.

Die Behauptung, dass Abtreibungen im neunten Monat „leichtfertig“ oder routinemäßig durchgeführt werden, ist faktisch vollkommen unhaltbar und zudem auch zukünftig – wenn man noch ein einigermaßen feinjustiertes apokalypsefreies Menschenbild hat – menschlich vollkommen unvorstellbar.

Um einmal in christlicher Kategorie zu argumentieren: Mit welchem abgrundtief bösen Blick muss man auf Frauen und Mütter schauen, um hier die eingangs geschilderte Szene für eine glaubwürdige Zukunftsdystopie halten?

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Solche Eingriffe sind nicht nur medizinisch komplex, sondern emotional höchst belastend nicht nur für die Mutter, sondern für alle Beteiligten – und zudem an strenge rechtliche und ethische Vorgaben gebunden.

Etwa die Junge Freiheit schreibt:

„Abtreibung bis zur Geburt, Corona-Impfpflicht und AfD-Verbot – dafür steht Frauke Brosius-Gersdorf, die kurz vor ihrer Ernennung zur Bundesverfassungsrichterin steht.“

Aber Frau Brosius-Gersdorf befürwortet Abtreibungen im neunten Monat an keiner Stelle. Allenfalls ist sie, was man eine kalte Juristin nennt, sie spielt bestimmte Szenarien in der Theorie gedanklich einmal durch, weil sie als Expertin explizit dazu aufgefordert wurde.

Ihre Positionen, wie etwa die Unterstützung einer liberaleren Abtreibungsgesetzgebung, bewegen sich im Rahmen der deutschen Debatte, die 2024 durch die Empfehlung einer Expertenkommission belebt wurde, die Beratungsregelung bis zur 22. Woche auszuweiten. Hier geht es darum, dass das Kind bis zu diesem Zeitpunkt so weit herangewachsen ist, dass es außerhalb des Körpers der Mutter lebensfähig sein kann, wenn es nicht zu leicht ist und wenn es sehr intensiv medizinisch betreut wird.

Die Berliner Zeitung hat das übrigens alles schon in höchstmöglicher Achtung vor dem ungeborenen Leben zusammengefasst.

Diese 22 Wochen wurden in Deutschland aber gar nicht gesetzlich umgesetzt, und selbst eine solche Liberalisierung würde Abtreibungen im neunten Monat nicht routinemäßig ermöglichen.

In der Sache ebenfalls von besonderer Bedeutung: Es ist nicht die Rolle einer Verfassungsrichterin, neue Gesetze zu erlassen, sondern bestehende Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Erkenne den Unterschied! Die Behauptung, Brosius-Gersdorf könnte als Richterin „Abtreibungen bis zur Geburt“ durchsetzen, ist daher mindestens ebenso abwegig.

Das Narrativ von „Abtreibungen im neunten Monat“ wird maßgeblich von christlich geprägten Lebensschutzgruppen und rechten Akteuren genährt. Diese Verzerrung ist besonders bösartig gegenüber denjenigen, gegen die hier wider besseres Wissen gezielt wird.

Diese Narrative sind bewusst emotional aufgeladen, um Unterstützung für rechte Positionen zu mobilisieren. Die Kritik an Brosius-Gersdorf spiegelt diesen Ansatz wider: Ihre Positionen werden verzerrt dargestellt, um sie als „lebenskritisch“ zu diskreditieren, wo man eigentlich auf ihre linke Haltung und AfD-feindliche Haltung abzielen will.

Solche Angriffe bedienen sich einer Rhetorik, die weniger auf juristischer Analyse als auf moralischer Empörung basiert, die tief in christlichen Werten verwurzelt ist. Und die dabei dann interessanterweise an Diffamierungen aus dem linken Spektrum erinnern.

Das deutsche Recht (§ 218 StGB) schützt den Fötus ab der 12. Woche, und Spätabtreibungen unterliegen strengen Kontrollen. Selbst eine potenzielle Liberalisierung der Abtreibungsgesetze würde diese Schranken nicht aufheben.

Die Vorwürfe gegen Brosius-Gersdorf sind tatsächlich Teil eines größeren „Kulturkampfs“, wie von links behauptet wurde. Und so wie es linksradikale Kräfte in anderen Themenfeldern seit Jahren tun, nutzen jetzt bestimmte skrupellose Konservative das Abtreibungsthema, um politische Gegner zu diskreditieren und die eigene Basis zu mobilisieren.

Die Fakten zeigen, dass Spätabtreibungen extrem selten, medizinisch begründet und streng reguliert sind. Die Kritik an Brosius-Gersdorf basiert auf verzerrten Darstellungen ihrer Positionen. Das Thema Abtreibung wird instrumentalisiert, um Ängste zu schüren – ein Muster, das tief in der christlichen Propaganda verwurzelt ist, aber mit der Realität wenig zu tun hat.

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