Mein Großvater mütterlicherseits war Herrschaftskoch, er bekochte Fürsten, Grafen und einmal sogar den Kronprinzen höchstpersönlich. Opa – geboren 1889 – wurde 88 Jahre alt. Mein zweitjüngster Sohn Hans* trägt seinen Namen.
Neben anderen Dingen habe ich von meinem kochenden Großvater seine ebenhölzerne schon ziemlich zerschrabbelte Messerkiste geerbt. Als ich in einer Werbeagentur beschäftigt war, diente mir diese Kiste über bald eineinhalb Jahrzehnte als Aufbewahrungsort für Stifte und andere Arbeitsutensilien.
Einmal kam einer der Agenturchefs vorbei und fragte mich, was das denn für eine olle Kiste sei. Wir hatten die Zeit und ich erzählte ihm die Geschichte meines Großvaters.
Anschließend fragte er mich, was ich für diese Kiste haben wolle. Offenbar hatte meine Erzählung bei ihm etwas angerührt. Das freute mich ebenso, wie es mich traurig machte, dass dieser finanziell so erfolgreiche Macher tatsächlich dachte, alles sei käuflich bis tief hinein in die Familiengeschichte der Anderen.
Mein Sohn Hans hat einmal, als er noch sehr klein und unvernünftig war, mit einem Gabelzinken mit vielen kleinen Punkten etwas in den Wohnzimmertisch gedrückt, dass wie ein kleiner Hund aussah. Meine Frau war darüber wütend und hatte versucht, es vorsichtig auszuschleifen. Aber die Eindrücke waren einfach zu tief.
Noch heute, bald zwanzig Jahre später, und immer, wenn ich um diesen Tisch herumlaufe, ertappe ich mich dabei, dass ich mit den Fingerspitzen beiläufig diesem kleinen Hund nachspüre.
Es bleibt beim Thema Tische: Heute fuhr ich mit meiner Frau und einem der Jungs zu IKEA. Ziel war es, einen Schreibtisch für Hans zu kaufen, der sein altes Zimmer gerade einmal komplett ausgemistet hatte.
So wurde auch die Arbeitsplatte ausgemistet, die ich einmal für die Kinder als gemeinsamen Schreibtisch gebaut hatte, als sie noch zu zweit das größere Kinderzimmer bewohnten. Ich erinnere mich, dass auch mein Vater meinem Bruder und mir so eine Platte gebaut hatte, seine war allerdings aus beschichteter Spanplatte, meine schon aus Vollholz: Eine generationenübergreifende Verbesserung, will ich meinen.
Wir fanden auch schnell einen vernünftig erscheinenden Schreibtisch und suchten bald den Ausgang – jeder kennt das vom IKEA-Rundgang, man gewöhnt sich nie. Und dann passierte, was IKEA bezweckt, meine Frau blieb wie angewurzelt stehen: Diesen oder keinen!
So stand sie wie angewurzelt vor einem schlichten Küchentisch für 129 Euro mit Kiefernvollholzplatte und sah gerade so aus, als hätte sie auf der Straße einen 100 Euroschein entdeckt und schnell den Fuß daraufgestellt.
„Was hältst Du davon?“, fragte sie mit einem mir unnatürlich dringlich und hoch erscheinendem Tonfall. Ich schaute einmal und noch ein zweites Mal, ob ich etwas übersehen hatte und antwortete dann gelernt vorsichtig: „Wir haben doch einen Okay-Küchentisch.“
Jeder ahnt was kommt. Der alte Tisch sei ihr schon sooo lange ein Dorn im Auge. Und es klang bald so, als sei dieser Austausch des Küchentischs gegen das neue Modell geeignet, tatsächlich alle Probleme dieser Welt zu lösen oder mindestens jene, mit denen wir uns täglich herumschlagen.
Nun kann meine Frau natürlich kaufen, was sie möchte, aber sie war immerhin noch an einer einvernehmlichen Entscheidung interessiert. Wir gingen derweil weiter, die Käuferkarawane drückte von hinten. Aber dann sah ich es schon aus den Augenwinkeln: Der Tisch hatte sich eingebrannt in die Augen der Frau. Wer einmal graublaue Augen hat glühen sehen, der weiß genau, was ich meine.
Also schob ich Frau sanft zwischen zwei übermannshohe Pflanzenwagen, die gerade im Weg standen und gab ihr zu verstehen, dass ich einverstanden sei, wenn sie bloß verspreche, den alten Tisch nicht wegzuschmeißen.
„Aber was willst Du denn damit?“, fragte sie in diesem besonders verzweifelten Tonfall, den ich noch nie richtig leiden mochte, weil er suggeriert, ich sei jetzt irreparabel von allen guten Geistern verlassen. So viel zur berühmten Kompromissbereitschaft, dachte ich.
Es blieb mir also nichts anderes übrig, als aufzugeben oder mich ausführlicher zu erklären. Mittlerweile waren wir bei diesen tiefen grauen Ohrensesseln angekommen, dessen IKEA-Name mir gerade entfallen ist.
Ich dachte an unseren alten Tisch und beschrieb meiner Frau, was sie doch eigentlich besser wissen müsste, weil sie viel öfter daran saß. Ich hatte das stabile Untergestell vor über zwei Jahrzehnten auf dem Sperrmüll entdeckt, mitgebracht, vom Baumarkt eine Vollholzplatte zuschneiden lassen und diese auf dem Gestell montiert, fertig.
Weiterlesen nach der Werbung >>>
Ihre Unterstützung zählt
Und wer unsere enge Küche kennt, der weiß, dass dieser Tisch seitdem jeden Tag etliche Male auf den Dielen hin und her geschoben wurde. Dennoch steht er bis heute wie ein Fels in der Brandung.
Aber noch etwas ist ihm passiert, das ihn für mich zu etwas ganz Besonderem macht: Dieser Tisch ist zur Chronik unserer Familiengeschichte geworden.
Er ist über und über bedeckt von versehentlichen und absichtlichen Kratzern, sogar Messerspitzen stecken in ihm, als eines der vier Kinder – oder vielleicht sogar ich selbst – dort einmal übermütig ein Küchenmesser geworfen und sich darüber gefreut hatte, dass es stecken blieb, zitternd, wie mitten im Bulleye einer Dartscheibe.
Es wäre gelogen, wenn ich sagte, ich könne zu jedem Kratzer die passende Geschichte erzählen, aber es fühlt sich gut an, darüber nachzudenken, wie über einer aufgeklappten Weltkarte. „Wie kann man auf die Idee kommen, diesen Tisch wegzuschmeißen? Das ist doch UNSER Familientisch!“, erklärte ich meiner Frau immer noch auf Höhe der grauen IKEA-Ohrensessel und schaute anschließend in ein wirklich entsetztes Gesicht.
Obwohl – entsetzt ist noch das falsche Wort. Ich erkannte die vollkommene Abwesenheit von Verständnis. Dabei hatte ich mir doch alle Mühe gegeben, zu erklären, worum es mir ging.
Mein älterer Bruder bewahrt bis heute ungeöffnete Schokoladentafeln auf, die er in den 1970er Jahren von seiner geliebten Urgroßmutter geschenkt bekommen hatte, noch kurz, bevor sie verstarb. Das könnte man zu Recht spleenig finden, aber meine Frau staunt über den Fingerabdruck unseres Familienlebens, den ich ums Verrecken nicht dem Sperrmüll überantworten wollte.
Nachdem ich kurz abgelenkt war von einem Familienstreit etwas weiter vorn in der IKEA-Rundgangskarawane, versuchte ich es mit einem weiteren Kompromiss. Ich schlug vor, ein größeres Stück aus der alten Tischplatte auszusägen und es besonders schön eingerahmt an die Wand zu hängen. Als ich noch dachte, der Kompromiss sei schon verdammt ziemlich gut, überraschte mich die Reaktion meiner Frau erneut: Ich sah kurzfristig nur noch das Weiße ihrer Augen, so sehr hatte sie diese verdreht.
Unser Jüngster rettete die Situation. Er war wohl schon eine Weile unangenehm berührt von dieser Debatte um den alten Küchentisch, dass er fürchtete, die IKEA-Karawane werden nach und nach mit in diese Debatte hineingezogen.
Kurzum: Sein Vorschlag war, ich könne doch aus einem Teilstück des alten Tisches eine Arbeitsplatte sägen, die genau auf den Geschirrspüler passt. Mama könne dort dann bestimmte Arbeiten verrichten, ohne sich vom Herd zum Tisch hin wegdrehen zu müssen.
„Nö, da habe ich keine Lust zu!“, erwiderte ich viel zu patzig, obwohl ich längst wusste, dass es am Ende darauf hinauslaufen wird.
Aber warum ist mir etwas wichtig, was anderen vollkommen egal ist? Vielleicht liegt es daran, dass dieser Tisch vielmehr Mittelpunkt im Leben meiner Frau war, als in meinem eigenen.
An diesem Tisch hat sie mit den Kindern gebacken, Hexenhäuser gebaut, Hausaufgaben gemacht und diese vielen Tuschebilder gemalt, die sie anschließend sorgsam mit Namen und Datum versehen in einem Ordner verwahrt hatte, in welchem die mittlerweile erwachsenen Kinder heute wieder gerne blättern und sich erinnern.
Sogar unser Enkel saß neulich an diesem Tisch und macht mit seiner Oma einen Kuchen zu seinem zweiten Geburtstag. Aber so ein Holztisch mit vielen Kratzern ist kein Tuschebild und auch kein Kuchen. Er ist nur ein altes Möbel, dass jetzt durch einen neuen ersetzt werden soll. Was soll daran eigentlich traurig oder seltsam sein?
Ich gehe jetzt aber gleich mal in den Keller, denn gerade ist mir wieder eingefallen, wo ich die alte zerschrammte Messerkiste meines Großvaters verstaut hatte. Ich bekomme gerade ganz furchtbare Panik, dass meine Frau diese unansehnliche Kiste in meiner Abwesenheit möglicherweise als entbehrlich erachtet hat. Aber ich frage sie nicht, ich schaue lieber selbst schnell nach ...
*Name geändert
Einen Kommentar schreiben
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen. Aufgrund von zunehmendem SPAM ist eine Anmeldung erforderlich. Wir bitten dies zu entschuldigen.
Zur Anmeldung
Kommentare
melden
Kommentar von Micaelle
Endlich mal was Heiteres! Ich stehe voll hinter dem Anliegen Ihrer Frau, Herr Wallasch. Um es in Politikerdeutsch zu formulieren: Ich bin ganz bei ihr. Da mein Mann und ich zu Ihren Getreuen gehören, habe ich ihn gleich auf den Artikel hingewiesen und siehe da, er hatte ihn bereits gelesen, mir aber nichts gesagt, wohl weil er wusste, dass ich auftrumpfen würde mit den Worten, siehste, bei Wallaschs ist es wie bei uns, immer muss Frau für die Innovation kämpfen und Mann beharrt auf dem Althergebrachten. Angegrabbelten Stühlen und Tischen von Werweißnochwem! Bei uns war der Stein des Anstoßes ein ornamental gestaltetes Sitzkissen aus den 70ern, wie man es aus Teestuben kannte. Es war nicht nur häßlich, es war schmuddelig, aber mein Mann liebte es wie Linus von den Peanuts seine Decke liebte. Zeitweise habe ich mich gefragt, ob ich diesen Mann mit diesem abartigen Geschmack an meiner Seite dulden sollte. Damals wagte ich es noch nicht darüber einen Streit anzufangen. Man wollte tolerant sein, obwohl ich mich für diesen Feudel schämte. Es war übrigens MEINE Wohnung. Wir hatten beide ein Architektur- und Designstudium hinter uns und wenn ein Kommilitone vorbeischaute, musste das schauderhafte Exemplar in den Schrank. Das war anstrengend. Eines Tages kam das Glück durch die Hintertür. Ein Kater. Siggi. Ich erhoffte mir, dass Siggi diesen Sitzfeudel eines Tages zerlegen würde und genau das war recht schnell der Fall. Zunächst fledderte Siggi den Bezug, aber das störte Mann noch gar nicht. Dann bohrte sich Siggi ins Innere vor. Der Rest ist Geschichte und ich durfte den Sitzfeudel in einem zufällig installierten Container im Hof des Eros-Centers nebenan entsorgen.
Das Schwedenhaus ist ein gefährlicher Ort, den fast niemand unbeschadet verlässt, die Preise tun ein Übriges, um den Einkaufswagen zu füllen. Muss sein! Schönen Gruß an Ihre Frau. Die Idee mit dem Stück Tisch finde ich jedoch klasse. Der Mann ist geblieben, ich auch, 40 Jahre stehen auf unserem Konto, unsere Geschmäcker unterscheiden sich nach wie vor…im Geringfügigen.
melden
Kommentar von Mad Max
… 'weia.
melden
Kommentar von Carl Peter
Vielleicht ist die Ehefrau als Hausherrin schon auf dem richtigen Dampfer und bereitet die Alters-Ehe zu zweit vorsorglich vor?
Da wird einiges als Neu zu sein haben und Sentimentalität kann sogar schmerzen, wenn die Kinderspuren der dann erwachsen gewordenen aushäusigen Kinder die Kinder selbst garnicht groß interessieren, und sie sogar von gelegentlichen Besuchen fernhalten.
Da halte ich einen neuen Küchentisch für gar keine schlechte Idee - die Erinnerungen an den alten Küchentisch bleiben doch zeitlebens erhalten.
Als Kinder waren wir erleichtert, als nach unserem Auszug alles durchrenoviert und -gestaltet wurde, und wir nicht von unserem neuen Zuhause in unser altes zurückkehren sollten - dieses Ansinnen kommt erst sehr sehr viel später.
Eltern können so auch ein wenig mit dem Neuerleben der Welt ihrer Kinder Schritt halten und versumpfen nicht im wie es gestern mal war.
Also ich sehe das mit dem Küchentisch positiv.
Bei der Holzkiste fiel mir ein, dass bei uns im Treppenhaus ja seit langem eine offene kleine Kiste an der Wand hängt, stark verwittert, dunkel verblichen und eigentlich völlig unansehlich.
Die Holzkiste war eines der vielen Multiples von Joseph Beuys, signiert und mit Bleistift geschrieben steht kaum noch erkennbar auf dem Kistenboden das Wort “Intuition”.
Der politische Aktivist und Spezialist für Multiples Klaus Staeck, soll sie bei Beuys als Massenproduktion quasi in Auftrag gegeben haben und sie kostete damals meiner Erinnerung nach fünf deutsche Mark.
Beuys soll sich bald gefürchtet haben, wenn Staeck mit neuen Bestellungen bei ihm vorbeikam und er sich hinsetzen musste um die fünf Brettter zusammenzunageln und zu beschriften.
Es sind wohl nur noch wenige Holzkisten im Umlauf, bei dem Preis wurden wohl die meisten als Sammelkiste für Sonstwas benutzt und irgendwann entsorgt.
Inzwischen kostet der Erwerb einer dieser Kisten den mehr als hundertfachen Preis - und das ohne eigene Erinnerung an die Geschichte der Kiste.
Wie das ja im Kunsthandel und der Kunstbetrachtung so üblich ist - im eigenen Alltag hat man ja die Chance, das eigene Leben als Kunstwerk aufzufassen.
Um den alten Küchentisch an der Wand aufzuhängen, braucht es jedoch einen grossen Künstlernamen, damit man nicht für einen Spinner gehalten wird.
melden
Kommentar von Uwe Seeber
Halali ist eine sog. Hofschranze, die für ihre Berichterstattung mit den entsprechenden Orden überhäuft wird. Sie steht in einer Reihe mit Böhmermann,Hirschausen und der unsäglichen Trägerin des deutschen Kreuzes am Band mit Brillanten. Voraussetzung für alle Ordensverleihungen ist dem deutschen Volk maximal zu schaden.