Die Nelkenrevolution fand in Portugal ohne die Weimers statt

Gefakte Erinnerungen: Wolfram Weimer und seine erfundene Kindheit

von Alexander Wallasch (Kommentare: 7)

Wolfram Weimer und keine Nelkenrevolution© Quelle: Wikipedia/ CC BY 2.5 , Youtube/Bundesregierung, Montage: Wallasch

Ein Militärputsch wird zur persönlichen Kindheitserzählung: Lebenslauf, Nachrufe und Schulchroniken zeigen allerdings, dass der neunjährige Wolfram Weimer die Nelkenrevolution nur aus dem deutschen Fernsehen kannte.

Der Junge hat halt eine blühende Fantasie, heißt es manchmal, wenn es darum geht, eine faustdicke Lüge zu entschuldigen. Aber ehrlich währt nun mal am längsten. Ein besonderer Spagat, wenn man eine Geschichte erzählt und wenn man die Zuhörer nicht langweilen möchte.

Von so einer Erzählung handelt der folgende Bericht. Von einem Ereignis, das tatsächlich passiert ist, aber nicht dem Erzähler, der sich die Geschichte zu eigen gemacht und sich selbst in ihren Mittelpunkt gestellt hat: Ein literarischer Trick. Eine Karl-May-Geschichte basierend auf einem tatsächlichen Ereignis.

Der heutige Kulturstaatsminister Wolfram Weimer sprach im Sommer 2023 mit dem Deutschlandfunk Kultur für das Format „Mein Demokratiemoment“, im Rahmen der „Denkfabrik Wehrhafte Demokratie“. Als Überschrift für dieses Gespräch wurde „Wolfram Weimer und die Nelkenrevolution in Portugal“ gewählt.

Erklärend zum „Demokratiemoment“ der Weimer-Erzählung von 5:35 Minuten heißt es da:

„Die meisten kennen diesen Demokratiemoment aus Geschichtsbüchern. Wolfram Weimer war als 10-jähriger Junge während der Nelkenrevolution in Portugal. ,Ein prägendes Erlebnis, weil Weltpolitik spürbar wurde', erinnert sich der Publizist und Verleger.“

Weimer berichtet, er lebte als Kind im portugiesischen Porto, sein Vater sei Lehrer an einer deutschen Schule gewesen. Die Nelkenrevolution sei für ihn ein prägendes Erlebnis gewesen, „weil Weltpolitik spürbar wurde, und was Demokratie bedeutet“.

Weimer berichtet, „wie das Bürgertum sich aufmachte, Demokratie auch selber zu gestalten“. Und Weimer ist tatsächlich ein recht unterhaltsamer Plauderer. Man hört ihm gerne zu:

„Der Mathelehrer, der Pfarrer, der Krämer an der Nachbarsecke, die fingen an und gingen auf die Straße und haben sich der Sache angenommen.“

Das überrascht etwas, denn die Nelkenrevolution war eine Militäraktion. Auf den Straßen demonstriert wurde erst ab dem 25. April 1974, als der Putsch bereits im Gange war. Vorher gab es keine nennenswerten öffentlichen Proteste. Und wenn Wolfram Weimer weiter von einer „friedlichen“ Revolution spricht, dann ist das eine interessante Interpretation eines Militärputsches. Tatsächlich verlief die Machtübernahme unblutig und das Militär unterstützte in der Folge freie demokratische Wahlen.

Weimer wird gefragt, ob er konkrete Erinnerungen habe und erzählt davon, dass Soldaten dreißig Kilometer vor Lissabon gestanden haben und nicht klar war, ob ihnen regimetreue Soldaten gegenüberstehen. Aber das geschah nicht „und es war ein ungeheurer Jubel“, berichtet Weimer, aber es klingt wie eine Wiedergabe des Wikipedia-Artikels, garniert mit dem verführerischen Gedanken: Ich war dabei!

Was man sich in den etwas mehr als fünf Minuten noch gewünscht hätte, wären tatsächliche persönliche Schilderungen von Wolfram Weimer, wie er selbst als 10-Jähriger und seine Familie mittendrin standen im Revolutionsgetümmel. Aber auch das Alter stimmt nicht, denn Weimer wurde im November 1964 geboren, war also zur Nelkenrevolution erst neun Jahre alt.

Stattdessen philosophieren Moderator und Gast noch ein wenig über europäische Geschichte, dann ist die Sendung vorbei mit dem Schlusssatz des Moderators:

„Wolfram Weimer, der damals, man kann es so sagen, wirklich dabei war.“

Ja, man kann es so sagen. Problem allerdings, die Weimers waren samt Wolfram Weimer zur Zeit der Nelkenrevolution gar nicht mehr in Portugal. Dafür sprechen sowohl der Lebenslauf, den Weimer an mehreren Stellen veröffentlicht hat, als auch Berichte über die Weimers, wie etwa ein Nachruf auf den Vater in der örtlichen Zeitung.

Schauen wir uns zunächst den Lebenslauf Weimers an, wie er von ihm selbst 2009 bei der Medienanstalt Berlin-Brandenburg hinterlegt wurde. Dort heißt es zur Ausbildung von Wolfram Weimer:

"• Volksschule an der "Deutschen Schule in Porto (Portugal)"
• 1973/74 Philipp-Reis-Schule in Gelnhausen
• 1975-1983 Grimmelshausen-Gymnasium Gelnhausen"

Die Nelkenrevolution begann am 25. April 1974. Die Weimers waren damals demnach längst wieder in Deutschland im beschaulichen hessischen Gelnhausen angekommen und der neunjährige Wolfram bereits dort eingeschult worden.

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Das bestätigt auch ein Bericht im „Vorsprung“, der Zeitung aus der Region, in der die Weimers sich nach der Portugalepisode zurückzogen, wo Wolfram auch geboren wurde. In der Zeitung heißt es dazu:

„Dr. Wolfram Weimer wurde am 11. November 1964 geboren und zwar – wie Philipp Reis – in Gelnhausen. Weil sein Vater Alois Weimer, der später am GGG unterrichtete, von 1966 bis 1972 als Deutsch- und Religionslehrer in Portugal tätig war, verbrachte Wolfram Weimer seine frühe Kindheit in Portugal. Ab 1973 besuchte er die Philipp-Reis-Schule in Gelnhausen.“

Danach war der Vater bis 1972 auf der Schule tätig. Und der Sohn 1973 bereits wieder in Gelnhausen. Von Porto nach Gelnhausen muss für einen Neunjährigen ein großer Schritt sein, die Mitschüler in Deutschland waren sicher stolz auf ihren „Portugiesen“, der so tolle Geschichten erzählen konnte. Aber eben nicht mehr von der Nelkenrevolution, die schaute man sich vom heimischen deutschen Fernsehen aus an.

Im Nachruf der örtlichen Zeitung auf den im März 2016 verstorbenen Vater Alois Weimer, den Lehrer und Schriftsteller, heißt es dazu: „Kurz vor der Nelkenrevolution 1974 kehrte die Familie wieder in die Barbarossastadt zurück.“ Auch danach haben die Weimers die Nelkenrevolution nicht selbst miterlebt.

Wenn jemand 2023 aus der Kindheit und mit Blick auf die Nelkenrevolution von seinem persönlichen Demokratieerlebnis berichtet, dann hat Wolfram Weimer seine Schummelgeschichte nicht etwa nur in der Rolle des Münchhausen zu Hause beim Bierchen den Kumpels erzählt, sondern in einem politischen Format des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zum Fundament seiner Glaubwürdigkeit als wichtige Stimme gemacht – etwa dem Format „Denkfabrik Wehrhafte Demokratie“.

Weimer benutzt diese Lügengeschichte auch als Minister. Damit begründet er seine politische Haltung.

Herausgefunden und zuerst darüber berichtet hat das alles der Schriftsteller und Künstler Ingo Niermann. Via X hat er es zusammengefasst. Und Niermann hat noch einen Bericht von Gerrit Bartels für den Tagesspiegel dazugelegt, in dem Wolfram Weimer bereits als Kulturstaatsminister auf einer Podiumsdiskussion während der diesjährigen Frankfurter Buchmesse wie folgt zitiert wird:

„Und das verheiratete sich in meinen Erinnerungen mit einem politischen Erlebnis: der Nelkenrevolution in Portugal.“

Knapp zwei Jahre nach Weimers „Demokratiemoment“ im Deutschlandradio Kultur wurde der Gelnhausener Kulturstaatsminister in der Regierung Merz.

Wir haben der Pressestelle des Kulturstaatsminister den Artikel zugesandt mit der Bitte um Stellungnahme, die wir hier gern nachreichen.

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