Mir war im gleichen Moment ganz flau. Und ich kann nicht sagen, ob hier ein Schrecken freigelegt oder die Psyche einen Streich spielt: Mein Zwillingsbruder Gregor schickte mir einen Artikel der „Zeit“ und schrieb dazu nur die Bemerkung „hehe“.
Der Artikel trägt die Überschrift „Ihre Eltern dachten, es geht ihnen gut“. Und ich bin mir durchaus im Klaren, dass das jetzt sehr privat werden kann. Klar, wer sich als Kind betrachtet, schaut eben auf ein Kind. Und wenn man selbst Kinder hat, neigt man vielleicht automatisch zu Rührseligkeiten – jedenfalls bestätigt es meine Frau.
Aber rührselig ist kaum, was der „Zeit“-Artikel beschreibt: Es geht um Essenszwang und Besuchsverbot. Autorin Hella Kemper schreibt einleitend:
„Millionen Kinder wurden in Deutschland zu fragwürdigen Kuren geschickt. Jetzt macht eine Studie sichtbar, was sie dort erlebt haben.“
Der Bruder und ich wurden als Vierjährige für Wochen von den Eltern auf so eine Kur geschickt. Mit der Bahn Braunschweig nach Bad Rothenfelde. Ich hatte schon einmal etwas dazu geschrieben, mag aber nicht mehr nachschauen.
Wir hatten gestottert, als wir wieder zu Hause ankamen – andere sagen, das Stottern sei schon vorher dagewesen. Eineiige Zwillinge sollen Studien zufolge öfter sprachlich in jungen Jahren mit der Welt hadern – zudem haben sie oft ihre eigene Sprache.
Wir bekamen jeder einen Teddybären in die Hand gedrückt, als der Zug losfuhr. Als wir heimkehrten, fehlten die glänzenden Glasaugen, wir hatten sie den Teddys herausgerissen. Erinnere ich mich daran? Jedenfalls nicht an eine diese böse Tat begleitende Gefühlslage.
Psychologisch muss man nicht lange grübeln: Sollten die Teddys nicht sehen, was die Kinderaugen sahen? Oder sollten die untreuen Eltern bestraft werden, die uns diese Teddys schenkten? Sind Kinder mit drei oder vier Jahren zu so einer mit ihrer misslichen Lage verknüpfenden Strafaktion überhaupt fähig?
Der alte Mann, der uns in den Zug zog, war am Vorabend schon mal im Elternhaus gewesen. Erst als der Zug losfuhr, war uns klar, dass die außerhalb des Zuges winkenden Eltern den Zug gerade verpasst hatten.
Es war Sommer 1968. Der Krieg war über zwanzig Jahre her, die Eltern hatten definitiv Schlimmeres erlebt, als nur eine Verschickung ins Kinderheim. Es ging bei ihnen um Leben und Tod. Sie waren Überlebende. Und ihre Teddys blieben beim Russen – hatten sie ihnen zuvor auch die Augen ausgerissen?
Mutter hatte später zu Hause mit grünem Wollfaden ein Kreuz in jede Augenhöhle eingestickt, Glasaugen waren wohl nicht zu bekommen.
Das mehrstöckige Kinderheim strahlte weiß in der Sonne als wir ankamen. Wir schauten hinauf, es blendete und Gregor fing an zu weinen.
Wer beim Essen unerlaubt redete, bekam den Pudding weggenommen. Der wurde einfach zum Nachbarkind rübergeschoben, das dann zwei Puddings essen durfte. Alle Männer und Frauen trugen weiße Kittel.
Einmal standen wir stundenlang in einer Reihe in einem Saal vor einem Schrank in der Ecke. Dort waren die Spielsachen eingeschlossen. Nun war die Tür kaputt. Aber kein Kind gestand die Tat. Wir waren die Jüngsten. Nach Stunden war dann doch ein älteres Kind geständig. Was dann geschah, erinnere ich nicht mehr.
Gregor erzählt davon, dass wir immer im kalten Wasser der Salzsalinen von Bad Rothenfelde sitzen mussten. Die Kur war ja offiziell aus gesundheitlichen Gründen verordnet worden.
Wir wurden zum Mittagschlaf getrennt – wir hatten das Schweigegebot gebrochen. Gregor kam auf eine andere Etage.
Nun kann man viel hineininterpretieren und viel Rummel machen um eine Sache, die über fünfzig Jahre zurückliegt. Die „Zeit“ beginnt maximal dramatisch:
„Auf unsichtbare Weise sind in Deutschland Millionen Menschen miteinander verbunden. Sie teilen etwas, über das die meisten von ihnen jahrzehntelang nicht gesprochen haben. Sie haben es verdrängt, vergessen, verschwiegen. Weil niemand sie gefragt hat. Weil ihnen oft nicht geglaubt wurde.“
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Sozialhistoriker der Humboldt-Universität haben eine groß angelegte Studie dazu gemacht. Die „Zeit“ fasst das Ergebnis so zusammen:
„Es sind zwischen 9,8 und 13,2 Millionen, und was sie behaupten, erlebt zu haben, hat sich tatsächlich ereignet – als kleinere oder größere Kinder, als Jugendliche, wurden sie verschickt. Die Forschung validiert nun ihre Erinnerungen.“
Die Studie will herausgefunden haben, dass das, was wir und Millionen andere Kinder erlebt haben, unser Leben verändert haben soll. Aber wie soll man von Veränderungen sprechen, wenn das Leben eines Menschen gerade erst begonnen hat? Was wäre heute anders, wenn es nicht passiert wäre? Geht es hier um den Verlust von Vertrauen, um Probleme in Beziehungen? Aber wer hatte die nicht mal und war dennoch nicht zur Kinderkur in Bad Rothenfelde eingesperrt?
„Und weil es so viele sind, hat das, was ihnen widerfahren ist, auch die deutsche Gesellschaft beeinflusst.“
Der „Zeit“-Bericht bleibt dramatisch: Diese Kinderverschickungen seien „die letzten blinden Flecke in der Geschichte der Bundesrepublik“.
Die neue Studie wurde beauftragt von der Deutschen Rentenversicherung, dem Deutschen Roten Kreuz, der Caritas und der Diakonie; sie waren die Träger größerer Heime oder finanzierten einen Hauptteil der Kuren.
„Unser“ Bad Rothenfelde war der Ort der Kinderverschickung mit den meisten Heimen in Deutschland; es waren 37 Häuser, und es muss demnach eine regelrechte Industrie gewesen sein.
Uns bleiben zwei blinde Teddys. Die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es Essenszwang gab, rigide Schlafvorschriften, feste Toilettenzeiten, in der Gruppe durchgeführte Hygienepraktiken. Es soll zahlreiche Hinweise auf körperliche Gewalt an Kindern geben, wie Ohrfeigen und Schläge durch das Heimpersonal, das Einsperren und Fesseln an Stühle oder Betten oder die zwangsweise Gabe von Medikamenten.
Auch von „psychischer Gewalt durch Beschämung, Drohungen durch Heimpersonal oder andere Kinder“ sei berichtet worden, zitiert die „Zeit“ aus der Studie. Hinzu gekommen seien Sprechverbot, Isolation oder der Entzug persönlicher Gegenstände. „Auch Fälle von sexualisierter Gewalt sind dokumentiert, wenngleich in nur relativ geringer Zahl“, heißt es weiter.
Aber es soll auch Kinder mit positiven Erinnerungen geben. Ab wann hat man konkret positive Erinnerungen? Kann ein Vierjähriger als Erwachsener sagen: Das war schön? Mein Zwillingsbruder war immer dabei. Das war beruhigend.
Später in der Grundschule steckte man uns in unterschiedliche Klassen. Die Verschickung lag da zwei Jahre zurück. Man wollte gewährleisten, dass sich jedes Kind individuell entwickelt.
An die Schulzeit habe ich viele schöne Erinnerungen. Die Lehrerin hatte langes braunes Haar und ein rundes Gesicht unter dem Mittelscheitel. Sie lächelte viel und trug einen Minirock aus Patchwork-Wildleder. Sie war wie diese Nscho-tschi aus den Winnetou-Büchern und wohnte im Nachbardorf über einem italienischen Restaurant. Ich bin öfter mal mit dem Kinderrad hingefahren. Nur so zum Gucken.
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Kommentar von Joachim Winter
ich war fünf und musste wegen Bronchitis vier Wochen weg in den Schwarzwald. Unfassbares Heimweh! Ein echtes Trauma. Eine Klinik für Kinder. Warum haben die das getan? Nach 14 Tagen? Rief meine Mutter an. Es seien nur noch zwei Wochen eine Ewigkeit! Als sie mich abholt, dann habe ich nicht mehr gesprochen, sondern nur noch gejammert.
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Kommentar von Inge H.
Da ich selbst unter väterlicher Gewalt aufgewachsen bin, weiß ich, wie ausgeliefert sich ein Kind fühlt und was es in dieser Zeit entwickelt. Ihre Teddybären sprechen für sich.
Darf ich kurz in die Literatur abschweifen? Es gab einen Autoren (Gott oder wer auch immer hab ihn selig) namens Charles Dickens, der Bücher für Erwachsene schrieb über Kinder in Heimen, ihr Leid, über die Verbrechen an ihnen im England der viktorianischen Zeit. Er hat es in einer Art und Weise getan, die bis heute ihresgleichen sucht. Die meisten kennen nur ein paar unterhaltsame Filme, die in keinster Weise auch nur annähernd das beschreiben, was man an Kindern verbrochen hat. Würde man das verfilmen, würde es keiner sehen wollen, soviel steht fest. Dickens hat diese Verbrecher aufs gnadenloseste und sarkastischste durch den berechtigten Dreck gezogen, und ich glaube, dass es diese Heime - egal welcher Art - in halb Europa gab.