Am Ende des Älterwerdens landen die Erinnerungen in der blauen Tüte

Meine Mutter will ihr Haus in Ordnung bringen

von Alexander Wallasch (Kommentare: 13)

Der Erinnerungsstaubsauger war erst durch ihren Kopf getobt und dann ging es im Turbogang an jene Dinge, die beim Anschauen noch Erinnerungen zurückzuholen in der Lage sind.© Quelle: Pixabay / jarmoluk

Gerade weil ich mich selbst davor scheue, kann es ein Thema sein, das ich als Wagnis einmal angehen muss, so persönlich es im Detail dann auch werden mag.

Neulich meinte meine 87-jährige Mutter, ich sollte mir langsam mal Zeit nehmen, ein paar Sachen mit ihr zu besprechen über die Wohnung und was so an Papierkram zu bereden sei.

Meine Mutter ist geistig fit, sie liest sehr viele Bücher, nur körperlich ist sie etwas wackelig, aber da hilft ein Rollator, auch in der Wohnung, Mutter schiebt ihr kleines Büro immer vor sich her samt Telefonablage, verschiedene Brillen, Fernbedienung, Fernsehprogramm – so etwas gibt es tatsächlich noch –, ein halb volles Glas Wasser, Tempotaschentücher und ein Holzbrettchen mit einem kleinen Obstmesser für den schnellen Apfel unterwegs.

Ich wiegelte sofort reflexartig empört ab, „Ach lass doch, Du wirst doch 100 Jahre alt.“ Nun kann das tatsächlich sein. Warum nicht, die Menschen werden immer älter. Aber es wäre schon ein kleines Wunder, wenn die Mutter diese Dreistelligkeit erreichen könnte.

Also wann ist es Zeit, über Papierkram zu reden und wie stellt man so etwas an?

Vorteilhaft bzw. nachteilig für uns und unsere Mutter ist, dass ihre ältere Schwester in der Nähe wohnt, die mit ihren 94 Jahren noch rüstig ist und schon etwas länger von „Papierkram“ redet. Es gibt sogar einen neunzigjährigen Bruder, der noch gar nicht über Papierkram redet.

Für uns ist das sehr vorteilhaft, weil wir sagen können: „Ach Mutter, Du bist doch noch gar nicht an der Reihe.“ Nachteilig für meine Mutter: Sie macht sich Gedanken und dringt damit nicht recht durch.

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Ich erinnere mich noch gut an eine andere Tante, die im hohen Alter ins Altenheim kam und in ihrer Wohnung, die sie über ein halbes Jahrhundert bewohnt hatte, dabei war, als wir ausräumten.

Die Tante lag in einem Zimmer auf dem Bett mit Blick zur offenen Tür, während ihr Hausstand mit jedem blauen Beutel mehr, der nach draußen transportiert wurde, ausdünnte, bis die Wohnung ganz kahl und leer zurückblieb.

Was an ihren Sachen wertvoll, interessant oder nichtig und wertlos war, entschieden jetzt andere. Der Erinnerungsstaubsauger war erst durch ihren Kopf getobt und dann ging es im Turbogang an jene Dinge, die beim Anschauen noch Erinnerungen zurückzuholen in der Lage sind.

Darüber habe ich nachgedacht, als die Tante da auf ihrem Bett lag, zart und mager wie ein flügellahmes Vögelchen, das man bei Regen gerade noch so vor der Katze von der Straße aufgeklaubt hatte, von dem man aber bereits wusste, das dem rasenden Herzschlag kaum noch zu helfen war. Was übrigbleib, war die selbstberuhigende Geste.

Die Tante bezog noch am selben Tag ihr eigenes Zimmer im Altenheim, ein Bild aus ihrer alten Wohnung wurde an die Wand gehängt, eine schlesische Landschaft in Öl, sogar ein kleiner alter Beistelltisch hatte es mit ins Heim geschafft. Die Tante starb wenige Wochen nach ihrem letzten und einzigen Umzug seit vielen Jahrzehnten, der Onkel war schon viel früher gegangen, wir hatten ihn nie kennengelernt.

Ich hatte den Sohn der Tante damals schräg angeschaut, weil er seine Mutter in der Zeit davor so selten besucht hatte. Er wohnte allerdings am anderen Ende des Landes und starb nur wenige Jahre nach der Mutter. Ob er vorher noch einmal umziehen musste, habe ich nicht erfahren, ebenso wenig, wie vom Inhalt der blauen Tüten, die nun möglicherweise an ihm vorbeigetragen wurden.

Ich habe schon einmal davon reden gehört, dass man sich im Alter von Dingen trennen soll, reinen Tisch machen soll. Das erscheint ebenso sinnvoll, wie die Erklärung dafür, warum alte Menschen sich oft nicht von Dingen trennen können. Jeder Gegenstand ist ihnen mit einer Geschichte verbunden, die nicht bei den Eckdaten endet, wie Kaufsituation und Kaufanlass.

Alte Menschen neigen auch deshalb öfter zum Messie-Dasein, weil sie sich erinnern wollen, etwas behalten wollen im doppelten Sinne: in der Erinnerung und als Anstoß für jede weitere Erinnerung. Kostbare individuelle Schätze, vollkommen wertlos beim Juwelier.

Diese ganzen Spleenigkeiten sind meiner Mutter fremd. Bei ihr ist so oft noch Trubel im Haus, die Schar der Enkel groß, sie muss wohl eher schauen, ob irgendwo noch Platz für immer noch neue Erinnerungen ist. Aus den getuschten Bildern der Söhne sind die der Enkel geworden und die schauen genau, wo Oma das wertvolle selbstgemalte Bild verwahrt.

Meine Mutter bat mich darum, mit ihr über ihre Wohnung und über ihre Papiere zu sprechen. Ich tat diese Idee zunächst ab, wohlwissend, dass es nur aufgeschoben war. Ich bin noch nicht soweit, dachte ich. Aber es geht hier überhaupt nicht um mich.

Ein Bekannter erzählt neulich, ein schwerer Schritt sei es für ihn gewesen, als er die letzten Worte für seine Mutter sprechen musste. Da dachte ich nur im Stillen: Um Himmelwillen, was alles noch auf einen zukommen kann, dabei war man doch selber gerade noch jung, wo sind verdammt nochmal bloß die letzten zwanzig Jahre geblieben?

Ich bewundere Menschen, die sich konsequent Zeit für sich nehmen können und es dabei trotzdem noch schaffen, Zeit für andere zu haben. Und bei dieser Betrachtung ist mir etwas Interessantes aufgefallen: Mir scheint fast – und das ist gewiss eine uralte, bereits tausendmal aufgeschriebene Erkenntnis – das beides zusammenhängt: Wer sich Zeit für sich nimmt, der hat Zeit für andere, er hetzt nicht so sehr durch die Ereignisse.

Wenn man so am Nachdenken ist, kommt eines zum anderen. Von meiner Mutter zu meiner Großmutter. Rückblickend würde ich sagen, die Oma war eine echte Meisterin in der täglichen Nachdenkzeit und das im Wortsinn. Als Kinder saßen wir regelmäßig vor dem Zubettgehen noch heimlich auf der kalten Holzstiege, während Großmutter in der offenen Küche am Werkeln war, das warme Licht schien weit in den dunklen Flur über das Linoleum hinweg.

Das Besondere war aber noch gar nicht einmal Omas Vorsichhinsummen beim Nachdenken, sondern ihre echten gesprochenen Sätze dazwischen. Manche Ereignisse des Tages wurden von unserer Großmutter in den Rang einer Nacherzählung gehoben. Dabei ging es durchaus nicht nur um die besonders herausragenden Tagesereignisse.

Heute glaube ich, sie war gar nicht Herrin darüber, welches Erlebnis sie in ein Selbstgespräch überführte. Wahrscheinlich lag es schlicht daran, wie tief sie dabei in Gedanken versank, jedenfalls erzählte sie es sich ab einer gewissen Intensität selbst laut.

Für uns Kinder natürlich ein Riesenspaß, dabei zu lauschen. Wir kniffen uns in die Wangen, um bloß nicht laut loszuprusten, wenn Oma etwas über uns oder unsere Eltern zum Besten gab. „Also der Alexander, der war aber heute wieder unruhig“, prust, prust.

Meine Mutter will mit mir mal über ihre Angelegenheiten sprechen. Sie will nicht, sagte sie mir, dass wir ihr später mal böse sind, dass sie eine Unordnung hinterlässt. Ich frage mich, wie sie auf so einen abwegigen Gedanken kommen kann.

Ob es tatsächlich irgendwo Kinder gibt, die auf ihre Eltern böse sind, weil diese Ihr Erbe nicht optimal vorbereitetet haben? Wie weit soll so etwas gehen? Sollen die Eltern schon die blauen Säcke einkaufen, damit nachher alles schneller geht? Meine Mutter wird hundert, habe ich gerade beschlossen.

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