Sind Sie auch ein bisschen erkältet? Der Hals tut weh, oder Magen-Darm? Ich habe heute für mich persönlich ein gutes Rezept gefunden, das alle Wehwehchen in Nullkommanichts weggefegt hat: Ich habe meine 97-jährige Tante Anneliese im Krankenhaus besucht.
Viele meiner Leser kennen Anneliese von Interviews bei Tichys und bei mir, beispielsweise hier, hier und hier.
Anneliese ereilte das Schicksal vieler Älterer, sie stürzte auf der Treppe und brach sich den Oberschenkelhals. Besonders prekär: Ihre Mutter – meine Großmutter – wurde 93 Jahre alt, sie hatte sich ebenfalls den Oberschenkelhals gebrochen und ist nie wieder aus dem Krankenhausbett hochgekommen.
Nun ist Anneliese mit ihren fast einhundert Jahren so mobil wie eine fitte 83-Jährige, samt Einkaufswegen und Wohnen in der dritten Etage und täglichem Gang hinunter zum Briefkasten. Aber auch das muss man dem Krankenhauspersonal eindringlich soufflieren, denn das hagere Vögelchen, das da jetzt im Bett liegt ohne Zähne und mit Sauerstoff in der Nase, sieht nicht besonders mobil aus, zudem hört Anneliese schlecht und wenn zu schnell geredet wird, mag der Kopf nicht mehr so gerne hin- und herspringen. Dann wird Anneliese einen kurzen Moment garstig.
Mit anderen Worten: So einen alten Menschen mit all seinen Eigenheiten muss man Fremden mitunter erklären, damit diese verstehen, wen sie vor sich haben.
Ich hatte schon überlegt, ob man, wenn die Tante wieder fit ist, mal ein kurzes Video dreht, wo sichtbar wird, wie der Allgemeinzustand ohne akute Gebrechen ist. Einfach, damit die Mediziner verstehen, wo die Genesung wieder hingehen muss, wenn wieder mal was passiert.
Der Bruder muss ähnliche Gedanken gehabt haben und fragte einen behandelnden Arzt, ob die Tante denn nach Genesung wieder Auto fahren könnte. Zugegeben, das war geflunkert, Anneliese ist seit Jahren nicht mehr gefahren, sagte aber neulich als Beifahrerin, sie hätte Lust, mal zu überprüfen, ob es noch ginge. Wir haben dann aber von dem Versuch abgesehen.
Aber ich fand den Dreh des Bruders gut. So hatte er dem Arzt eine Idee vermittelt, wen er vor sich hat. Ich war schon froh, dass der Bruder nicht vom Skifahren gesprochen hat, das wäre dann doch unglaubwürdig gewesen.
Diese elenden Oberschenkelhalsbrüche scheinen eine Art Sollbruchstelle zu sein. Eine vom Herrgott oder der Natur – wen immer man für verantwortlich hält – eingeplante Obsoleszenz.
Ich habe nachgelesen, dass eine 80-jährige Frau in Deutschland ein verbleibendes Lebenszeitrisiko von ca. 20–25 Prozent hat, sich noch mindestens einmal in den restlichen Jahren den Oberschenkelhals zu brechen. Bei über 90-Jährigen sind es bis zu sechstausend pro hunderttausend Personen, die sich noch so einen Bruch zuziehen. Und hier trifft es wohl insbesondere Frauen.
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Ich hatte Anneliese einen kleinen Stoffpinguin von Rossmann (dm war nicht in der Nähe) mitgebracht, den ich ihr als Glücksbringer auf den Nachttisch stellen wollte. Aber den sollte ich bloß wieder mitnehmen inklusive der ganzen anderen und eher praktischen Sachen, die ich mir ausgedacht hatte, wie Stift und Block, Schokolade, Erfrischungstücher und Weihnachtskekse. Warum sie das nicht wollte, bedurfte keines langen Rätselratens, Anneliese wollte sich gar nicht erst häuslich einrichten. Das Ziel war, schnellstmöglich wieder nach Hause zu kommen.
Am Bett wollte ich noch einen medizinischen Ratschlag loswerden: Lass dir eine Schmerztablette geben, wenn der Schmerz anfängt, nicht erst, wenn er nicht mehr auszuhalten sei, dann wäre es deutlich schwieriger, ihn wieder runterzudimmen.
Die Vollnarkose sei das Beste gewesen, erwiderte Anneliese fast trotzig. Und das Morphium gleich nach dem Sturz, als der Krankenwagen kam, das sei ja ganz hilfreich gewesen, aber dann musste sich die 97-Jährige übergeben. Und sie glaubt, dass es auch am Morphium lag, dass der Russe in der Nacht wieder gekommen sei, der so lange nicht mehr erschienen sei. Da müssen diese starken Mittel eine alte Wunde aufgerissen haben, die auf keinem Nebenwirkungszettel steht.
Zu allem Überfluss habe auch das tschechische Knie wieder weh getan, dass ihr die Tschechen bei der Flucht im Internierungslager zerschlagen hatten. Alles sei wieder hochgekommen, auch die Monate im Lazarett, als sie 1945 vom Typhus angefallen wurde und nachts der Russe kam.
Anneliese macht sich Sorgen um ein paar Hausbesuche bei ihr, die abgesagt werden müssen, „damit die Leutchen nicht vor der verschlossenen Tür stehen“. Und im Kühlschrank muss einer durchschauen, dass nichts verkommt, das muss dann eben zur Schwester (89) nach nebenan rübergebracht werden. Ach und überhaupt, die Wohnung sei nicht richtig aufgeräumt, sorgte sich die Tante und ärgert sich, dass sie den Balkon nicht rechtzeitig winterfest gemacht habe.
Meine Tante ist eine tapfere ältere Dame. Ja, sie ist eigensinnig. Aber dieser Eigensinn ist ein enger Verwandter des Willens und der Disziplin. Anneliese führte schon in ganz jungen Jahren eine BDM-Gruppe in ihrer schlesischen Heimat. Und wenn sie heute nicht schlafen kann, erzählt sie, dann sage sie sich der Reihe nach alle die schönen Gedichte auf, die ihr noch einfallen. Oder sie singt die Lieder, die sie noch zusammen bekommt. Aber stumm und in ihrem Kopf.
Anneliese wird wieder gesund, da bin ich ganz sicher. Für uns ist sie längst eine lebende Legende. Ihre Mutter hatte sechs Kinder. Die Zwillinge starben gleich nach der Geburt, die Erstgeborene mit einem Jahr an der Grippe. Alle drei liegen in der lehmig schweren schlesischen Erde. Die anderen Geschwister – Tante Anneliese, meine Mutter und der Onkel – sind heute zusammen 277 Jahre alt. Manchmal spielen sie am sonnigen Tisch am Fenster Karten. Der Onkel bringt dazu immer Streuselkuchen mit. Der ist sehr trocken. Aber mit dem guten Bohnenkaffee geht er schon noch runter.
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Kommentar von Marion Sönnichsen
Ich wünsche der Tante alles Gute, schnelle Genesung und noch ein langes Leben. Schön von einem Menschen zu hören, der mit 97 Jahren noch so fit ist. Beeindruckt hat mich auch das Interview von Flavio von Witzleben mit dem 97-jährigen Klaus von Dohnanyi. Die Geschichte aus dem Krieg, den die Tante einen kurzen Moment wieder durchlebte und erwähnte, erinnert mich an die Aussage einer anthroposophischen Ärztin zum Thema Demenz. Die anthroposophische Sichtweise ist, die Demenz als einen hochgeistigen Prozess anzusehen, der sich im Innern des Menschen abspielt. Durch diesen Rückzug ins Innere verarbeiten, so die Sichtweise, Menschen Traumata aus der Vergangenheit, die sie am Ende ihres Lebens noch verarbeiten müssen. Sehr gut finde ich, dass diese Sichtweise dem Betroffenen eine Würde verleiht und gleichzeitig eine akzeptable Erklärung für die Angehörigen bietet. Und in der Tat durchleben Demenzkranke dieser Generation Krieges-Erlebnisse. Man kann das nachvollziehen.
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Kommentar von Max Meier
Gute Besserung wünsche ich Ihrer Tante Anneliese hiermit unbekannterweise. Starke Frau. Hoffentlich kommt sie bald wieder auf die Beine.
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Kommentar von Karen-Steffi Wellinger
Welch wundervolle Umschreibung einer großartigen Frau ! Ich gratuliere zu dieser Tante und ihrer Lebenseinstellung. Sie erinnert mich an eine meiner Großmütter, die letztlich mit eigenem Haushalt 107 Jahre alt wurde. Diese Generation ist einzigartig. Schätzen wir uns glücklich, das erleben zu dürfen.
Alles Gute und schnelle Gesundung !