Gemeinschaftlich rissen wir den Teddys ihre braunen Glasaugen aus

Sechs Wochen Sparta 1968 – Als Vierjährige verschickt nach Bad Rothenfelde

von Alexander Wallasch (Kommentare: 13)

Die Zeitung berichtet über 50 Jahre später von Medikamententests, die an den Verschickungskindern vorgenommen worden sein sollen.© Quelle: privat

Erstaunt las ich etwas, was ich längst vergessen glaubte. Nur der Ortsname war nie ganz weg: „Bad Rothenfelde“, Salzsalinen und Kinderverschickungsheime – wie ich jetzt erfuhr, soll es für andere Kinder die Hölle gewesen sein. Wir waren wohl glimpflicher davongekommen.

Meine Frau bestellte neulich bei der Bundeszentrale für politische Bildung ein Buch mit Titel „Das Elend der Verschickungskinder – Kindererholungsheime als Orte der Gewalt“. Sie kam darauf, weil sie einen Bericht darüber gelesen hatte und immer wieder der Ort Bad Rothenfelde genannt wurde, den ich ihr gegenüber öfter erwähnt haben soll.

Tatsächlich wurde ich mit meinem Zwillingsbruder im Sommer 1968 für sechs Wochen nach Bad Rothenfelde verschickt, die Kinderärztin in Braunschweig hatte es organisiert und alle notwendigen Formulare ausgefühlt, die Durchschläge liegen bis heute abgeheftet in einem Ordner.

Mein Bruder und ich waren demnach etwas schwach auf der Brust und brauchten Luftveränderung. Die Eltern hatten für diese Zeit der Kinderverschickung einen Urlaub in Italien gebucht, beide waren Kriegskinder. Gemessen an den Schrecknissen, die sie durchgemacht hatten bis hin zu Scheinerschießungen auf der Flucht beim Tschechen, kann man auch von Kriegsüberlebenden sprechen.

Es existiert bis heute ein kleines Fotoalbum mit Bildern aus dem Urlaub der Eltern. Der Umschlag ist aus dickem Plastik mit italienischen Motiven bedruckt. Die Seiten sind aus schwarzem Karton und die Mutter hat mit einem weißen Kreidestift in Schönschrift die Stationen des Urlaubs beschrieben. Der Vater klebte noch unter Wasserdampf abgelöste Etiketten von Weinflaschen, Eintrittskarten für die Oper und eine Hotelrechnung ins Erinnerungsalbum mit hinein.

Ich meine mich noch 54 Jahre später zu erinnern, dass es am Abend klingelte. Ein alter grauhaariger Mann betrat damals die Wohnung, er nahm im Wohnzimmer Platz und wir wurden – was durchaus ungewöhnlich war – aus dem Kinderzimmer dazugeholt. Nach einer halben Stunde verschwand der Mann wieder und wurde auch von uns vergessen, er hatte keine Bedeutung mehr, die kam erst später zurück.

An einem sonnigen Morgen fuhren die Eltern mit uns und einem kleinen Koffer zum Braunschweiger Bahnhof, es hieß, wir verreisen jetzt. Die Mutter hatte Brote geschmiert, ich weiß es noch, als wäre es heute: Es waren Vollkornbrote mit der geliebten Leberwurst ohne Stückchen auf Butter und als Krönung noch dünne saure Gurkenscheibchen obenauf.

Am Bahnhof stand dann plötzlich wieder dieser alte Mann, der Tage zuvor noch im Wohnzimmer saß. Die Eltern brachten uns ins Zugabteil und plötzlich saßen wir drinnen, die Eltern standen aber draußen und der alte Mann hatte den Fuß quergestellt damit wir nicht zur nahen Tür laufen könnten, der Zug fuhr los, die Eltern winkten und wurden dann immer kleiner.

Wir durften unsere Brote nicht essen, der alte Mann meinte: „Erst später.“ Die kleinen Teddybären, die wir mit auf die Reise geschenkt bekommen hatten, hielten wir ganz fest und wollten sie gar nicht mehr weglegen.

Als wir vor der weißen Villa im Grünen standen, deren Außenwände man kaum anschauen konnte, weil die Sonne so grell darauf schien, fing der Bruder wieder an zu weinen. Und ich verstand auch sofort warum: Es war die Angst, was uns wohl ohne die Eltern hinter der großen Holztür erwartete. Der dunkle Gong der Klingel schepperte bis nach draußen, eine Frau mit Haube erschien und der Mann verschwand, die Leberwurstbrote waren in der Tüte mittlerweile ganz weich und wir gerade vier Jahre alt geworden.

Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit in einer Reihe aufgestellt nur so dastanden wie die Orgelpfeifen und ohne uns bewegen zu dürfen, fingen die Allerkleinsten wieder an zu heulen.

Es muss also im Heim auch Kinder gegeben haben, die noch jünger waren als vier Jahre. Der Mann im weißen Kittel und die beiden Frauen mit Haube schrien abwechselnd: „Wer hat den Schrank kaputt gemacht? Wer hat den Schrank kaputt gemacht? Ihr bleibt alle so lange stehen, bis der Schuldige vortritt!“ Und wir standen und ich hatte dolle Angst, mir in die Hose zu machen.

Warum kann man sich über 54 Jahre später an solche Details erinnern? Ich weiß es nicht, weiß nicht einmal ob es echte Erinnerungen oder Patchwork-Erinnerungen sind, wir waren ja zu zweit.

Irgendwann trat einer der älteren Jungen nach vorn und gestand mit gesenktem Kopf, dass er es war, dem die Tür des Spieleschranks kaputtgegangen war. Ich glaube, ich hielt ihn damals für den mutigsten Jungen der Welt. Die Reaktion der Erwachsenen war ebenfalls seltsam, denn es brach keineswegs das große Geschrei über dem Jungen zusammen, er wurde sogar dafür gelobt, geständig gewesen zu sein, aber es klang ganz anders, als ein Lob, das man bekam, wenn man zu Hause brav sein Zimmer aufgeräumt hatte.

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Der Entzug des Nachtischs drohte täglich, immer musste man aufpassen, richtig zu essen und vor allem aufzuessen. Wer etwas falsch machte, musste auf den grünen oder roten Wackelpudding mit dem Hauch Vanillesoße obenauf verzichten, die Erwachsenen gaben es einem anderen Kind, das dann zwei essen durfte.

Mein Bruder erzählt bis heute, ich hätte ihn gefragt, ob die Eltern denn tot seien. Er hätte immer beruhigend geantwortet: Nein, die Eltern sind nicht tot. Ich erinnere mich daran nicht. Ebenso wenig, wie ich sagen kann, ob mich beim Aufschreiben die Erinnerung selbst aus dem verschütteten Inneren heraus bewegt oder ob es mir dabei einfach wie jedem Leser einer bewegenden Geschichte geht, nur dass ich sie gerade selbst aus meiner eigenen Erinnerung und der Erzählung des Bruders aufschreibe.

Der Bruder sagt, wie mussten stundenlang im kalten Wasser in Wannen unter den Salzsalinen von Bad Rothenfelde hocken, weil das gesund sein sollte. Ich erinnere mich auch daran nicht. Aber ich weiß, dass wir irgendwann gemeinsam unsere Teddys nahmen und ihnen die glänzenden braunen Augen ausgerissen haben. Die Mutter hat später mit Kreuzstich und dicken blauen oder grünen Wollfäden neue Augen gemacht. Die Wollfadenaugen sahen dann aus wie die Narben auf den Oberarmen von Piraten in einem unserer Bilderbücher.

Als wir einmal zu laut waren, kamen wir in unterschiedliche Zimmer zum Mittagsschlaf. Aber gottseidank nur für die ein paar Stunden. Es gibt noch mehr Erinnerungen, aber sie sind zusammenhangslos. Und es sind immer helle sonnendurchflutete Bilder wie aus einer antiseptischen Klinik im Scheinwerferlicht. In der Erinnerung ist alles überbelichtet wie die Außenfassade des Hauses, bevor wir es zum ersten Mal betraten.

Ich erzählte dem Bruder von dem Buch, welches meine Frau bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt hatte. Seitdem schickt er mir einen Link nach dem anderen. Bad Rothenfelde war in den letzten Jahren offenbar in aller Munde, ohne dass ich es bemerkt hätte, nur meine Frau horchte auf und bestellte besagtes Buch.

Die Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ) titelte von „Heimweh auf Rezept“ und einem „System Kinderkur“. Eine eigens eingerichtete Webseite „Kinderverschickung.de“ titelt „Als ich heim kam, stank ich erbärmlich nach Urin“ und „Selbst ein Toilettengang war mit Angst verbunden.“ Und wieder die NOZ titelte „Ein Alptraum für viele Kinder“ oder „Wie viele wurden bei Kinderkuren in Bad Rothenfelde misshandelt?“

Ruhr24 berichtete vor wenigen Tagen von Entschädigungen für Verschickungskinder nach Nordrhein-Westfalen unter der Schlagzeile: „Verschickungskinder erlitten schlimme Traumata“.

Da heißt es unter anderem vom NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU):

„Sie müssen oftmals bis heute mit den Nachwirkungen umgehen. Es ist höchste Zeit, dieses Leid wahrzunehmen sowie die Ursachen und die Umstände, unter denen es zugefügt wurde, systematisch und umfassend zu erforschen und aufzuarbeiten. (…) Viele Betroffenen leiden noch heute unter den Folgen, die zum Teil jahrzehntelang ignoriert wurden. Deshalb muss der Runde Tisch auch über geeignete Therapieangebote sprechen“.  

Die Zeitung berichtet auch von Medikamententests, die an den Verschickungskindern vorgenommen wurden: Lagen da wirklich diese bunten Tabletten neben dem Teller oder ist das schon eine Verknüpfung mit anderen Erinnerungen und Erzählungen? Nein, man kann nicht mal eben wieder vier Jahre alt sein.

Ehrlich gesagt hat es mich überrascht, das alles jetzt nachzulesen. Was kann einem als Vierjährigen passieren, was macht das im späteren Leben und geht es jemandem, der demgegenüber lebenslang in Watte gebettet wurde, besser?

Ein Vierjähriger kann sein Schicksal ja kaum selbst bestimmen. Aber die Lebensumstände eines Vierjährigen bestimmen sein weiteres Leben. Was ist Stockholm-Syndrom, was ist aus der Erzählung anderer dazu gekommen, was ist wahr, was ist wichtig, was ist richtig? Und was ist nicht so schlimm und nur eine Erfahrung von vielen auf dem Weg zum Erwachsensein?

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