Coming-Out: Bei Fenerbahçe trällert Özil wie eine Nachtigall

Türkische Nationalhymne: Mesut Özil kann plötzlich singen!

von Alexander Wallasch (Kommentare: 6)

Fest steht, die Deutschen wissen viel weniger was deutsch ist, als die Türken wissen was einen Türken ausmacht. Der Deutsche hat sein Deutschsein tief vergraben in seinem Inneren. Er hat sich zurückgezogen, ist allenfalls still und heimlich deutsch. Dadurch sind Leerstellen entstanden.

Sollte man hier als Deutscher nachgereicht beleidigt sein? Der Fußballer Mesut Özil (aktuell Fenerbahce Istanbul) sang jetzt vor dem Spiel seiner Mannschaft die türkische Hymne mit, was er den deutschen Zuschauern bezogen auf die deutsche Hymne 92 Nationalspiele lang verweigert hatte. Dazu muss man wissen, dass in der Türkei auch bei Liga- und Pokal-Spielen die ersten beiden Strophen der Hymne gesungen werden. Zwar schwieg er bisher auch bei seinem neuem Klub, hatte aber jetzt ein musikalisches – oder gar ein nationalistisches? – Coming-Out.

Allerdings war sein Schweigen in Istanbul zuvor nicht gut angekommen. Die Türken verstehen überhaupt kein Spaß, wenn es um ihre nationale Identität und ihren Nationalstolz geht. Es hagelte Kritik. Zunächst versuchte es Özil noch mit der Vereinshymne, die er im Auto trällernd veröffentlichte, aber zuletzt gab er dem Drängen der türkischen Fenerbahce-Fans doch nach.

Was wiederum die Frage aufwirft, ob die deutschen Fans zu wenig gedrängelt haben. Dazu aber gleich mehr, zunächst ein Blick zurück:

Der deutsche Ex-Nationalspieler Mesut Özil hat sich um den deutschen Fußball verdient gemacht. 92 mal (bei 23 Toren) lief er im deutschen Trikot auf den Platz – zuletzt war er Teil der deutschen Mannschaft, die 2014 in Brasilien Weltmeister wurde. Trotzdem es dort Kritik hagelte, war es Özil, der im Achtelfinale in der Nachspielzeit das entscheidende 2:0 gegen Algerien schoss. Damals brüllte er seine Erleichterung in den südamerikanischen Himmel über Porto Alegre. Was freilich WM-Experte Andi Brehme schon ein Spiel weiter nicht daran hinderte über das Viertelfinale gegen Frankreich zu sagen, Özil sei der schlechteste Mann auf dem Platz.

Unbenommen bleibt: Der gebürtige Gelsenkirchener, der 2007 seine türkische Staatsbürgerschaft ablegte zugunsten der deutschen, hat sich für dieses Land verdient gemacht. Obwohl es immer mal wieder thematisiert wurde, störte es am Ende nur wenige, dass sich Özil in allen 92 Spielen dem Absingen der Nationalhymne verweigert hatte. Angeblich, erklärte er einmal fast beschwichtigend,  würde er in der Zeit für den Sieg beten und so der Mannschaft indirekt doch auch helfen.

So bleibt es leider Spekulation, sich zu überlegen, was eigentlich passiert wäre, hätte Özil sich irgendwann – oder ganz konkret in Brasilien – dazu entschlossen einfach mal die Hymne des Landes mitzusingen, in dem er geboren und dessen Staatsangehörigkeit er schließlich gegen die türkische tauschte.

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Stattdessen traf sich Özil nicht nur einmal, nämlich als es zum Eklat kam mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, sondern zuvor schon 2011, 2012, 2016 und 2017 von der deutschen Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet. Wer sich also 2018 über das Trikot-Geschenk an Erdogan empörte, der hätte das schon 2011 tun können, denn auch damals überreichte Mesut Özil Präsident Erdogan ein von ihm signiertes Trikot von Real Madrid und man schüttelte sich freundschaftlich die Hände. 2012 ist Erdogan in Madrid und trifft sich dort mit Mesut Özil.

Damals war alles möglich, eine deutsche Wochenzeitung beispielsweise staunte über die boomende Wirtschaft der Türkei und die rasante Annäherung an Europa: „Es gab noch keine „Gezi-Proteste“ keinen Putsch, kein Präsidialsystem, keinen türkischen Staat, der deutsche Journalisten bei ihren Recherchen einsperrt.“ Auch für Özil schien seine Welt in Ordnung, als er gegenüber dem Männermagazin GQ sagte: „Ich spiele für Deutschland, weil ich mich als Deutscher fühle. Gleichzeitig betone ich aber, dass ich stolz bin auf meine türkischen Wurzeln.“ Sogar Gänsehaut will er bekommen habe im deutschen Trikot auf dem Platz neben seinen Kumpels stehend.

Türkische Nationalhymne: Mesut Özil kann plötzlich singen!
Mesut Özil kann plötzlich singen! © Foto: Wikimedia Commons / Steindy (talk)

Lange ist es her. Dann folgte auf die vorübergehende sportliche Krise Özils – wenn auch auf höchsten Niveau beklagt – der persönliche Niedergang, der Bruch mit der Nationalmannschaft und letzten Endes auch der Bruch mit Deutschland und der Geburtsheimat. Heute lebt, lacht – und singt sogar! – der Fußballstar im Land seiner Eltern und Großeltern.

Die linke Tageszeitung taz hatte im August 2018 den Mittelfeldstar Toni Kroos im Zusammenhang mit der Özil-Erdogan-Affäre kritisiert: Nein, Kroos sei nicht „ kroosartig“. Und nicht Özils Verhalten wurde in diesem Artikel kritisiert, als der sich mit dem türkischen Autokraten beim freundlichen T-Shirt-Geschenkmoment ablichten ließ. Nein, die taz bemängelte an Kroos, dessen Kritik sei „undifferenziert und unangebracht“.

Was hatte Toni Kroos gesagt? Er hatte dem eigentlich „lieben Kerl“ und Nationalspieler-Kamerad Mesut Özil bescheinigt, der hätte in seiner Rücktrittserklärung „viel Quatsch“ erzählt. Unter anderem wehrte sich Kroos vehement gegen die Behauptung, es würde innerhalb der deutschen Nationalmannschaft Rassismus geben. Für die taz aber ist Kroos per Se wenn nicht schon Rassismus verdächtig, dann doch außen vor: „Zudem kennt er sich als blonder, weißer Mann sicher weniger mit Rassismus aus, als ein Deutscher mit türkischen Wurzeln – wie Özil es ist.“ Mal davon abgesehen, dass die taz hier ohne mit der Wimper zu zucken rassistische Ressentiments einfach umkehrt, verweigert sie Kroos auch, an der Debatte überhaupt teilnehmen zu dürfen, weil seine Haut zu hell, seine Augen zu blau und seine Haare zu blond sind.

Gehen wir noch einmal in dieses wundervolle Stadtteilstadion Sükrü-Sracoglu-Stadion, dem Heimathafen von Fenerbahce Istanbul. Über 50.000 Fans haben hier mittlerweile Platz, das Stadion verfügt über eine Stadionheizung, sogar im Winter, der auch in Istanbul durchaus mal kalt sein kann, ist es hier angenehm warm. Aber unter der Corona-Pandemie spielt man sowieso wie anderswo auch ohne Publikum. Mesut Özil sang also bzw. bewegte mindestens die Lippen für die Fernsehübertragungsgeräte.

Bleibt zuletzt noch die Frage, ob die Deutschen ihren Özil zu leichtfertig haben gehen lassen. Warum haben sie nicht genau wie die Türken rechtzeitig noch mehr darauf gedrängt, die Hymne auch hier zu singen und keine Ausnahme zu machen? Geht es überhaupt um ein Bekenntnis zum Land in diesem an Selbstbekenntnissen so verarmten Deutschland? Tatsächlich ist die Frage interessant, ob Mesut Öziul mehr Deutscher (Pass, Geburtsort), mehr Türke (Herkunft der Eltern) oder am Ende am allermeisten längst der Multimillionär ist, der überall leben könnte.

Fest steht, die Deutschen wissen viel weniger was deutsch ist, als die Türken wissen was einen Türken ausmacht. Der Deutsche hat sein Deutschsein tief vergraben in seinem Inneren. Er hat sich zurückgezogen, ist allenfalls still und heimlich deutsch. Dadurch sind Leerstellen entstanden, wie der türkischstämmige deutsche Nachbar des Autors hier auf Nachfrage erzählt:

„Die freien Flächen besetzen die Migranten, die NGOs und die linksdenkenden Deutschen.“

Der Nachbar ist im Gegensatz zu Özil noch in der Türkei aufgewachsen. Zum Fall Özil sagt er jetzt: „Als ich Ende der 1970er Jahre in der Türkei in die Schule ging, da wurde jeden Freitag zum Schulschluss die Hymne gesungen und die Fahne gehisst und das gleiche nochmal am Montag. Noch heute ist der Druck in der Türkei enorm - Verweigerungen werden wirklich übel genommen. In Deutschland hingegen gibt es immer welche, die sich nicht dran halten. Hier gibt es ja sogar eine Vize-Bundestagspräsidentin, die hinter einem Banner demonstriert auf dem steht so etwas wie „Deutschland du mieses Stück Scheiße.“ In der Türkei wäre so etwas vollkommen unmöglich, das würde für einen kollektiven Aufschrei sorgen. Da verstehen die Türken keinen Spaß. Ehrlich, jeder Afrikaner, jeder Syrer – jeder Türke sowieso –ist stolzer auf sein Land als ihr Deutschen auf Eures.“

Der türkischstämmige Nachbar glaubt auch zu wissen, was da mit Özil passiert ist, für ihn ist diese ganze Migrationsgeschichte etwas scheinheilig, der Mensch bleibe im Inneren immer was er ist.

Die deutsche und die türkische Kultur seien auf ganz besondere Weise zwei Paar Schuhe. „Wenn du in beiden leben willst, lebst du in zwei Scheinwelten, wenn du es dir mit der türkischen Community nicht verscherzen willst, dann betonst du dort deine türkische Seite. Und wenn du in die Arbeit geht, betonst du die deutsche Seite.“

Mesut Özil arbeitet und lebt in Istanbul. Und er betont seine türkische Seite: Özil singt jetzt im Stadion die türkische Nationalhymne.

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