Beurteilen Sie selbst, was daran verwerflich sein soll

Was Brosius-Gersdorf wirklich geschrieben hat – Das Original

von Alexander Wallasch (Kommentare: 8)

Die Schwangerschaft© Quelle: Pixabay/Marjonhorn

Viel wurde geredet darüber, was Frauke Brosius-Gersdorf alles geschrieben oder nicht gesagt haben soll. Höchste Zeit, sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Nach Lektüre Erörterungen„für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ bleibt allerdings kaum Spielraum für eine ätzende Kritik.

Hier der Originaltext von Frauke Brosius-Gersdorf. Seite 26-29 aus „Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzung“. Die Kommission hat sich gemäß Ampel-Koalitionsvereinbarung am 31. März 2023 konstituiert und unter Einhaltung des vorgegebenen Zeitplans ihre Arbeit zum 31. März 2024 beendet.

Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf:

Verfassungsrechtlicher Rahmen für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs
Kapitelverantwortliche: Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LL.M. (Edinburgh)

5.1. Urteile des Bundesverfassungsgerichts und Bindungswirkung

§§ 218 ff. StGB sind geprägt durch zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch. Gegenüber dem Gesetzgeber kommt den Urteilen keine formale Bindungswirkung zu (1. Senat des BVerfG).

Das Bundesverfassungsgericht nimmt im Rahmen einer etwaigen Normenkontrolle eine eigenständige materielle Prüfung einer gesetzlichen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs jedenfalls dann vor, wenn der Gesetzgeber hinreichend veränderte tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse darlegen kann.

5.2. Verfassungsrahmen für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs

Ob und inwieweit der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs regeln darf, bemisst sich nach dem durch die Verfassung eröffneten Gestaltungsspielraum.

5.2.1. Grundrechte des Embryos/Fetus:

Bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs hat der Gesetzgeber Schutzpflichten für das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) des Embryos/Fetus (jedenfalls) ab Nidation. Wegen der existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen vom Körper der Schwangeren spricht viel dafür, dass das Lebensrecht pränatal mit geringerem Schutz zum Tragen kommt als für den geborenen Menschen.

Im Zeitraum zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus gilt entweder ein gleichbleibend geringes Schutzniveau oder ein Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensrechts, dessen Schutz sich am jeweiligen Entwicklungsstadium des Embryos/Fetus orientiert.

Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus hat sein Lebensrecht starkes Gewicht. Ab Geburt gilt das Lebensrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
mit vollwertigem Schutz (5.2.1.2.).

Ein geringerer Lebensschutz des Embryos/Fetus ist widerspruchsfrei zum Lebensrecht des geborenen Menschen, bei dem sich jede Schutzabstufung verbietet. Beim geborenen Menschen besteht keine vergleichbare existenzielle Angewiesenheit auf eine leibliche Einheit mit anderen Grundrechtsträgern wie beim Ungeborenen. Ein Konzept des pränatal geringeren Lebensschutzes ist deshalb kein Einfallstor für postnatale Lebensrechtsdifferenzierungen (5.2.1.2.).

5.2.2. Menschenwürdegarantie des Embryo/Fetus:

Ob dem Embryo/Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zugutekommt, ist fraglich. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt. Doch selbst sofern man von einer vorgeburtlichen Geltung der Menschenwürdegarantie ausginge und sie in diesem Fall mit dem gleichen, vollwertigen Schutz wie für den geborenen Menschen Anwendung fände, bestünde wohl nicht per se ein generelles Abwägungsverbot mit den Grundrechten der Schwangeren. Und selbst bei – unterstellter – Annahme von vollwertigem Menschenwürdeschutz für den Embryo/Fetus, gibt es Argumente dafür, dass die Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht verletzt wäre (5.2.1.1.).

5.2.3. Grundrechte der Schwangeren und Dritter:

Als gegenläufige Positionen zu den Grundrechtspositionen des Embryos/Fetus sind die Grundrechte der Schwangeren zu beachten, die bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs als Abwehrrechte Anwendung finden. Das Verlangen der Schwangeren nach einem Schwangerschaftsabbruch ist durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) geschützt.

Daneben sind Grundrechte Dritter wie die des männlichen Erzeugers und der Ärztinnen und Ärzte zu wahren (5.2.2. und 5.2.3.).

5.2.4. Auflösung des Güterkonflikts:

Für die Auflösung des grundrechtlichen Güterkonflikts zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und den Grundrechten der Schwangeren ist Folgendes maßgeblich:

Dem Lebensrecht des Embryos/Fetus kommt geringeres Gewicht zu als dem Lebensrecht des Menschen nach Geburt. Bei einem gleichbleibend geringeren Gewicht zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit ist das Lebensrecht in dieser Phase im Rahmen der Abwägung durchgehend mit demselben (geringen) Gewicht zu berücksichtigen. Bei einem Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensschutzes nimmt die Schutzintensität des Lebensrechts mit fortschreitender embryonaler/fetaler Entwicklung zwischen Nidation und Geburt zu.

In beiden Fällen gilt das Lebensrecht des Fetus ab extrauteriner Lebensfähigkeit mit starkem Schutz und ab Geburt mit vollem Schutz (5.2.4.).

Den Grundrechten der Schwangeren kommt im Rahmen der Abwägung mit dem Lebensrecht des Embryos/Fetus zu Beginn der Schwangerschaft starkes Gewicht und mit Fortschreiten des Gestationsalters geringeres Gewicht zu. Denn mit zunehmender Dauer der Schwangerschaft und entsprechender Verantwortungsübernahme für das Ungeborene steigt die Zumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft (5.2.4.).

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5.3. Unterschiedlicher Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in verschiedenen Phasen der Schwangerschaft

Unter Berücksichtigung dieser Abwägungsgesichtspunkte ist zwischen verschiedenen Phasen der Schwangerschaft zu differenzieren (5.2.4. und 5.3.):

– Frühphase der Schwangerschaft:

In den ersten Schwangerschaftswochen nach der Nidation treten die Belange des Embryos/Fetus hinter den Grundrechten der Schwangeren zurück. In der Frühphase der Schwangerschaft hat das Lebensrecht des Ungeborenen eher geringes Gewicht; gleichzeitig genießt das Verlangen der Frau nach einer Beendigung der Schwangerschaft starken grundrechtlichen Schutz. Der Frau steht in dieser Schwangerschaftsphase ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu. Der Schwangerschaftsabbruch ist daher in der Frühphase der Schwangerschaft – anders als bislang – rechtmäßig zu stellen.

– Spätphase der Schwangerschaft:

Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus ist es umgekehrt, dann kommt dem Lebensrecht des Fetus grundsätzlich Vorrang vor den Grundrechten der Schwangeren zu. Denn in dieser Spätphase der Schwangerschaft gilt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit starkem Schutz, während die grundrechtlichen Belange der Schwangeren wegen der kürzer verbleibenden Dauer der Schwangerschaft vergleichsweise geringes Gewicht haben. Der Fetus ist in dieser späten Schwangerschaftsphase grundsätzlich weiter bis zur Geburt auszutragen. Der Gesetzgeber muss den Schwangerschaftsabbruch in dieser Spätphase daher grundsätzlich als rechtswidrig erachten.

– Ausnahmen gelten bei Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft für die Frau. Dann kehrt sich das Ergebnis der grundrechtlichen Güterabwägung um und der Schwangerschaftsabbruch ist rechtmäßig.

Eine solche Unzumutbarkeit ist insbesondere in Fällen der medizinischen Indikation gegeben, wenn die Schwangerschaft eine Lebensgefahr oder schwerwiegende Gesundheitsgefahr für die Schwangere begründet, die sich nicht auf andere zumutbare Weise abwenden lässt. Bei der medizinischen Indikation besteht allerdings Neuregelungsbedarf. Sie erscheint problematisch in Konstellationen, in denen die Gefahr für die Frau nicht in einem akut lebens- oder gesundheitsbedrohenden Befund besteht, der durch die Schwangerschaft selbst bewirkt wird, sondern aus den Belastungen durch die Verantwortung für das Kind nach der Geburt resultiert.

Solche Belastungen können insbesondere bei einem pränataldiagnostisch auffälligen embryo- bzw. fetopathischen Befund entstehen, der gegenwärtig einen „Unterfall“ der medizinischen Indikation darstellt (§ 218a Abs. 2 StGB). Es fehlen gesetzliche Kriterien zur Beurteilung der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einem pränataldiagnostisch auffälligen Befund ein Schwangerschaftsabbruch durch Fetozid bei extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus zulässig ist oder sich Belastungen durch die Verantwortung für das Kind nach der Geburt zumutbar dadurch abwenden lassen, dass die Frau das Kind zur Welt bringt und ggf. zur Adoption freigibt.

Eine hiervon zu unterscheidende, ebenfalls nicht geklärte Frage ist, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Schwangerschaftsabbruch bei einem schwerwiegenden pränataldiagnostischen Befund, etwa bei einer diagnostizierten schwerwiegenden und nicht heilbaren Krankheit des Fetus (vgl. § 3a Abs. 2 ESchG), zumal wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum frühen Tod nach der Geburt führt oder mit der Aussicht auf ein durch Leid und Schmerz geprägtes Leben einhergeht, unabhängig von einer eigenen Gefährdung der Frau auf ihr Verlangen zulässig ist.

Der Gesetzgeber sollte diese Problemlagen überdenken und die medizinische Indikation einschließlich der Fälle embryo- bzw. fetopathischer Befunde neu regeln. Dabei wird er auch zu erwägen haben, ob er den Schwangerschaftsabbruch bei einem embryo- bzw. fetopathischen Befund wieder als eigenständigen (Erlaubnis)Tatbestand regelt.

Dies wirft unter anderem die Frage auf, ob ein solchermaßen begründeter Schwangerschaftsabbruch mit dem Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vereinbar ist.

– Mittlere Phase der Schwangerschaft:

Zwischen dem Ende der frühen Schwangerschaftswochen und der Lebensfähigkeit des Fetus ex utero steht dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zu, wie er den grundrechtlichen Güterkonflikt auflöst und bis zu welchem Zeitpunkt er den Schwangerschaftsabbruch als rechtmäßig ansieht.

Ebenso wie in der Spätphase der Schwangerschaft muss der Gesetzgeber in der mittleren Phase der Schwangerschaft den Abbruch in jedem Fall erlauben, wenn der Frau eine Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar ist. Dies ist neben der medizinischen Indikation auch bei einer kriminologischen Indikation der Fall. Die gegenwärtige Frist von nicht mehr als 12 Wochen seit der Empfängnis (s. § 218a Abs. 3 StGB) ist zu eng bemessen, weil Frauen wegen des mit einer Vergewaltigung verbundenen Traumas die Schwangerschaft mitunter erst spät bemerken oder realisieren.

– Beratungspflicht: Soweit der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase oder danach rechtmäßig stellt, darf er eine Beratungspflicht für die Frau mit oder ohne eine Wartezeit vorsehen, muss es aber nicht (Gestaltungsspielraum) (5.3.).

– Strafbarkeit:

Soweit der Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig ist, scheidet eine Strafbewehrung aus. Soweit der Schwangerschaftsabbruch dagegen rechtswidrig ist, liegt es grundsätzlich in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, dies kriminalstrafrechtlich abzusichern (5.3.).

– Konsequenzen für die weitere Rechtsordnung: Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs als rechtmäßig oder rechtswidrig hat Konsequenzen auch für die weitere Rechtsordnung. Wegen des verfassungsrechtlichen Konsistenzgebots sollte der Gesetzgeber die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit folgerichtig auch in anderen Rechtsbereichen wie insbesondere der Gesetzlichen Krankenversicherung umsetzen (5.3.).

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