Selenskij spricht von „Völkermord“ - parallel fließt russisches Gas durch sein Land

Wenn die Ukraine an der Gasleitung spielt…

von Alexander Wallasch

Die Begleitumstände des russischen Krieges gegen die Ukraine erscheinen immer absurder: Jetzt wird die erstaunte deutsche und europäische Öffentlichkeit mit der Tatsache konfrontiert, dass nach wie vor aus Russland kommende Pipelines durch die Ukraine in Betrieb sind, die ein Drittel der europäischen Gas-Lieferung ausmachen.

Aber was für ein bizarrer Krieg ist das, wo beide Kriegsteilnehmer dieselbe Gasleitung pflegen und betreiben?

Die Deutsche Welle berichtete gestern, dass die Ukraine wegen des Krieges den Transit von russischem Gas – genauer: sibirischem und zentralasiatischem – Richtung Europa im Gebiet Luhansk in der Ost-Ukraine eingeschränkt hätte:

„Aufgrund der russischen Besatzung sei es unmöglich geworden, den Punkt Sochraniwka sowie die Verdichterstation Nowopskow zu kontrollieren, teilte der ukrainische Gasnetzbetreiber GTSOU mit. Damit fielen bis zu 32,6 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag weg. Das sei fast ein Drittel der täglich über die Ukraine nach Europa transportierbaren Höchstmenge.“

In nüchternen Zahlen sehen die Liefermengen und ihre Reduzierungen folgendermaßen aus: Am vergangenen Dienstag lag das Auftragsvolumen noch bei 95,8 Millionen Kubikmetern. Am Mittwoch waren es nur noch 72 Kubikmeter Gas, welches Gazprom für den Transit durch die Ukraine lieferte.

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Die deutsche Bundesnetzagentur bestätigt, dass ein Viertel weniger Gas in Süddeutschland angekommen sei. Aber Norwegen und die Niederlande glichen diese Minderung bereits mit höheren Lieferungen aus. Nicht einmal Preissteigerungen seien beobachtet worden.

Der ukrainische Gasnetzbetreiber meldete wiederum, dass jetzt kriegsbedingt ein Drittel der Gaslieferungen durch die Ukraine nach Europa wegfielen.

Der Spiegel kommentierte: „Aufgrund der russischen Besatzung sei es unmöglich geworden, den Punkt Sochraniwka sowie die Verdichterstation Nowopskow zu kontrollieren.“ Höhere Gewalt soll im Spiel sein.

Aber was für eine merkwürdige Form höherer Gewalt ist das denn, wenn zwei Kriegspartien hier offensichtlich noch ein gemeinsames Geschäft betreiben? Die Meldung muss man sich im Wortlaut wiederholen, um zu begreifen, wie bizarr das angesichts eines Krieges ist, welchen der ukrainische Präsident Selenskij als „Völkermord“ bezeichnet:

„Zwischen ukrainischen und russischen Konzernen ist Streit über eine der Pipeline-Routen für den Transport von Erdgas nach Europa ausgebrochen.“

Der ukrainische Gasnetzbetreiber GTSOU meldete die Einschränkung am Dienstag, das russische Unternehmen Gazprom dementierte am Mittwoch, es gäbe „keinerlei Bestätigungen über Umstände höherer Gewalt.“ Die Ukrainer arbeiteten in den vergangenen Wochen ganz „ungestört“ in Sochraniwka.

Sochraniwka ist Teilstück der Sojus-Pipeline, die wiederum vom russischen Orenburg bis ins ukrainische Uschgorod verläuft.

Noch ein interessanter Wert: Die vertraglich maximale Auslastung des russischen Gastransits durch die Ukraine nach Europa liegt bei 109 Millionen Kubikmeter pro Tag.

Und um diese Zahl noch in ein Verhältnis zu stellen: Insgesamt – also nicht nur über die ukrainische Pipeline – fließen täglich mehr als 380 Millionen Kubikmeter Gas von Russland nach Europa. Die Lieferungen aus Russland machen demnach 45 Prozent der Gaseinfuhren in die EU aus.

Noch ein Verständnisproblem: Die meisten Deutschen können sich, selbst mit den geografischen Eckpunkten ausgestattet, kein rechtes Bild machen, woher eigentlich welches russische Gas kommt, über welche konkreten Wege es transportiert wird und was das im Gesamtpaket eigentlich bedeutet.

Der Ost-West-Konflikt samt eisernem Vorhang hatte aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion einen großen weißen Flecken gemacht. Zumindest aus dem westlichen Blickwinkel. Mindestens kulturell und materialistisch war diese Blindheit aber sehr einseitig: Die Bewohner der ehemaligen Sowjetunion wissen um ein Vielfaches mehr über den Westen als umgekehrt.  

Die westlichen Werte inklusive ihrer Konsumkultur sind expansiv und mit Abstand erfolgreicher. Die Furcht vor einem Identitätsverlust in Russland findet jenseits ideologischer Systeme statt. Die Polen beispielsweise kommen damit besser zurecht. Aber auch hier ein ähnliches Bild: Viele Polen sind deutschsprachig, wissen detailliert, was in Deutschland los ist, umgekehrt kann davon lange nicht die Rede sein.  Für die Ukraine gilt aus deutscher Sicht das Gleiche. Hierzulande wussten viele vor dem Konflikt nicht einmal sicher zu sagen, ob die Ukraine geografisch überhaupt zu Europa gehört.

In der West-Ukraine laufen drei Pipelines bzw. Trassen mit russischem Gas zusammen: Eine kommt vom Gasfeld Urengoi aus dem hohem Norden Sibiriens. Über Weißrussland verläuft ein Abzweiger der Jamal-Europa-Trasse in die Ukraine. Und die dritte Trasse kommt aus dem südlichen, zentralasiatischen Teil Russlands. Die drei Leitungstrassen kreuzen sich nach der Zusammenführung in einer Verdichterstation bei Uschgorod nahe der die ukrainisch-slowakische Grenze.

Aber auch diese Informationen verwirren mehr, als dass sie helfen. Jedenfalls erklären sie nicht dieses komplizierte Geflecht aus Verträgen und Abhängigkeiten. Vor Jahrzehnten gab es beispielsweise russische Vorzugpreise für ehemalige Sowjetrepubliken, verbunden mit einem Paket aus Gegenleistungen.

Die russisch-ukrainischen Gaspipelinegeschäfte sind nur ein Baustein eines Beziehungsgeflechts in Schieflage, das jetzt einseitig in eine große Katastrophe geführt hat. Besonders erstaunlich für Außenstehende, dass dabei immer noch nicht alle Fäden zerschnitten sind.

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