Reichelt rechtfertigt die Vertreibung ⋅ Siegmund verweigert das Holocaust-Ranking

Wenn Ostpreußen und Schlesien kein Völkermord war – wie soll es dann Gaza sein?

von Alexander Wallasch (Kommentare: 12)

Ulrich Siegmund und Julian Reichelt© Quelle: X/UlrichSiegmund, YouTube/Rohschnitt – Der Podcast aus dem Barbershop, Montage: Wallasch

Lieber Julian Reichelt, Sie sagen, die Ermordung und Vertreibung der Ostdeutschen sei gerechtfertigt gewesen. Meine heute 97-jährige Tante Anneliese hat in einem tschechischen Todeslager die erhängten Familien vom Dachboden schneiden müssen. Ich gebe Ihnen gern ihre Nummer. Sie wartet schon lange auf so einen Anruf.

Scharfe Debatte um öffentliche Äußerungen von Ulrich Siegmund, AfD-Chef von Sachsen-Anhalt versus eine Äußerung von Julian Reichelt, Journalist und Chef von Nius. Beide sitzen in ganz unterschiedlichen Talk-Formaten und dennoch werden Ausschnitte aus beiden Beiträgen gerade hochemotional debattiert und zusammengebracht.

Fangen wir mit Ulrich Siegmund an, der wollte sich in einem Podcast nicht mit einer Nazi-Framing-Frage triggern lassen von Springer-Ableger „Politico“. Auf die Frage, ob der Holocaust das schlimmste Menschheitsverbrechen sei, verweigerte Siegmund die geforderte Antwort und damit die Inszenierung – prompt folgte für den aktuell erfolgreichsten AfD-Landeschef (40 Prozent) der mutmaßlich auch via staatsfinanzierter NGOs orchestrierte „Nazi, Nazi“-Shitstorm.

Und Julian Reichelt saß in einem brandneuen YouTube-Format „Rohschnitt, Let’s Talk“, direkt aus dem Barber-Shop mit Giovanna Winterfeld und Manaf Hassan als Moderatoren. Auch Sahra Wagenknecht war Gast dieses neues Format in Top-Besetzung.

Eine Aussage sorgte für einen Shitstorm gegen Reichelt. Anschließend wurden diese Kommentare in den sozialen Medien vielfach den Aussagen von Siegmund gegenübergestellt.

Aber was hatte Reichelt eigentlich gesagt? Der Journalist wandte sich an Moderator Manaf Hassan:

„Ich halte es für legitim, dass in einem militärischen Verteidigungskampf – tragischer- und schrecklicherweise, und ich weiß, damit gewinnt man nirgendwo Sympathiepunkte – auch Kinder umkommen. Und wie würde ich das denn persönlich empfinden? (Red.: Manaf Hassan hatte vorher danach gefragt) Da kann ich nur über meine persönliche – weil ich eure persönliche Geschichte mit euren Vorfahren in diesem Land nicht kenne und die von Frau Wagenknecht auch nicht – kann ich nur sagen, halte ich es für legitim, dass meine Großeltern aus den deutschen Ostgebieten vertrieben worden sind.

Oh ja, das halte ich für vollkommen legitim. Warum? Weil sie Juden vergast haben. Weil sie sich einem Regime angeschlossen haben, das Juden vergast hat. (Deswegen) halte ich die Bombardierung deutscher Städte für legitim im Zweiten Weltkrieg. (Red.: auf den Einwand hin, das seien zwei verschiedene Sachen) Das sind eben nicht zwei verschiedene Sachen. Zwei verschiedene Sachen gibt es bei euch immer dann, wenn es um Juden geht.“

Bevor es um die Inhalte geht, muss man sich vergegenwärtigen, in welcher Runde Reichelt saß und um was es kurz vor seinem Zitat inhaltlich ging. Thema war die Frage, ob es in Gaza einen Völkermord gegeben hat. Bis auf Reichelt war sich jeder in der Runde mehr oder weniger einig, dass Israel in Gaza so einen Völkermord begangen habe.

Und Manaf Hassan hatte Reichelt zuvor in etwa gefragt, was der denn machen würde, wenn wahllos seine Familie umgebracht werde, weil irgendwer aus dem Umfeld an einem Terroranschlag beteiligt war. Dabei bezog sich der Moderator auf das Attentat vom 7. Oktober 2023 und Zehntausende anschließend im Gaza-Krieg von der israelischen Armee getötete Zivilisten.

An der Stelle wurde Reichelt immer wieder auch von Moderatorin Giovanna Winterfeld unterbrochen. Entsprechend erhitzt suchte Reichelt in dieser 1:3-Situation nach dem befreienden Argument und landete unvermittelt in den deutschen Ostgebieten. Von da an wurde es knifflig. Denn zunächst folgt Julian Reichelt hier der traditionell rechten Lesart, dass Deutsche 1945 getötet und vertrieben wurden, obwohl das nicht kriegsentscheidend war.

Reichelt stellt hier die bei den Vertreibungen ermordeten Deutschen aus den Ostgebieten den Bewohnern des Gaza-Streifens gegenüber. Seine Vorfahren hätten auch in diesen Gebieten gelebt, aber die Ermordung selbst der Kinder der Schlesier und Ostpreußen halte er – sinngemäß – für gerechtfertigt.

Damit hat Reichelt die Frage von Manaf Hassan beantwortet und ihm quasi zu verstehen gegeben, dass Hassan zu akzeptieren habe, was er, Reichelt, mit Blick auf den Mord an seinen Vorfahren ebenfalls akzeptiert habe.

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Noch spannender wäre es geworden, wenn Hassan zurückgefragt hätte, ob Reichelt die 2-3 Millionen ermordeten Deutschen als einen Völkermord betrachtet oder nicht. Die deutsche Geschichtsschreibung ist hier jene der Sieger und sie kommt Reichelt zugute – übrigens bis dahin, das man sich heute auf nur noch 600.000 Ermordete geeinigt hat, Dresdens Zahlenspiele lassen grüßen.

Warum hätte Hassan fragen sollen? Wenn die Erschlagenen, Ermordeten, die an Scheunentore Genagelten, die zu Tode vergewaltigten deutschen Frauen, die erfrorenen, zerbombten, erschossenen und verbrannten Kinder 1945 nicht Opfer eines Völkermords gewesen sein sollen, dann kann man es definitiv auch niemals für den Gaza-Streifen behaupten.

Oder kurz gesagt: Reichelt hat in dieser Diskussion vor Kameras aus der Bedrängnis heraus diesen unschlagbaren Punkt gemacht. Und ja, er hat es auf Kosten seiner, meiner und unserer Vorfahren gemacht. Aber das muss Julian Reichelt mit sich selbst ausmachen.

Ich kann Julian Reichelt nur in wenigen Stichworten erzählen, welchen Völkermord an den Deutschen in den Ostgebieten er hier gerechtfertigt hat. Und ich will es aus den Erzählungen meiner Familie machen. Ich möchte Julian Reichelt hier nicht belehren oder vorführen. Ich möchte ihn nur bitten, mir einen kurzen Moment zuzuhören:

Meine Mutter war 1945 neun Jahre alt, ihre Schwester 16 Jahre, der Bruder 11 Jahre alt, als sie auf der Flucht in Tschechien interniert wurden. Die 16-Jährige musste am Morgen die Familien aus dem Dachgebälk schneiden, die sich des Nachts dort erhängt hatten: Frauen, Kinder, Halbwüchsige. Andere Familien hatten sich vergiftet und mussten vom Strohlager hinaus in die Kälte getragen werden. Als dann meine Großmutter das Gift bereithielt, wehrte sich die Neunjährige mit Händen und Füßen, bis ihre Mutter schließlich widerstrebend davon abließ. Draußen auf dem Hof sah man durch die glaslosen Fenster, wie immer wieder neue deutsche Jungs in Uniform aufgestellt und stundenlang gequält oder gleich erschossen wurden, je nach Lust und Laune der Tschechen. Und als die 16-Jährige erkrankte, machten die Russen des Nachts auch vor dem Lazarett nicht halt.

Das sind die Weihnachtsgeschichten unserer Familie. Und irgendwann sagte die Mutter mal, was der Vater als Neunjähriger erlebt hat, das sei noch viel schlimmer gewesen. Das kann ich Julian Reichelt erzählen, daraus soll er selbst seine Schlüsse ziehen.

Die genannte 16-Jährige geht übrigens heute auf die hundert zu. Wenn es kälter wird, dann jammert sie über Schmerzen im Knie. Dann sagt sie zu ihren Neffen: Das ist mein tschechisches Knie! Die Tschechen hatten ihr das Knie zerschlagen. Die schlimmeren Dinge, die passierten, sorgen dafür, dass sie noch heute manchmal Nachts schreiend und schweißgebadet aufwacht. Im Alter ist es sogar wieder häufiger geworden, sagt die Tante. Seinen Träumen kann man nicht entkommen.

Die Tante sagt schon mal: „Ich habe keine Lust mehr. Ab neunzig ist alles Mist.“ Aber dann rafft sie sich doch wieder auf und geht nochmal zum Einkaufen, weil sie doch gerade so Lust auf frische Orangen hat.

Wenn Julian Reichelt will, kann ich ihm gern die Telefonnummer von Tante Anneliese geben, soll er sich mal mit ihr unterhalten. Ich habe schon ein paar Gespräche mit Anneliese veröffentlicht. Regelmäßig auch schon bei Tichys Einblick. Nur wer das Gespräch sucht, wer mit den Alten redet, weiß heute, was gestern geschehen ist. Diese Geschichten finden sich nicht in den Büchern der Sieger. Wir müssen Sie uns mündlich weitererzählen, lieber Julian Reichelt.

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