Vielleicht ist es deshalb ja so besonders wichtig, auch die schönen Plätze Berlins nicht aus den Augen zu verlieren. Bitte nicht erschrecken, dass jetzt ausgerechnet ein Bauwerk der Nationalsozialisten herhalten muss, für die Hauptstadt zu werben. Aber die Attraktivität der Berliner Waldbühne ist nichts ohne seine Darbietungen und Gäste: Sie beleben und verankern diesen einzigartigen Ort in der Gegenwart, der sonst nur steinernes Zeitzeugnis der Nazidiktatur wäre.
Gestern am frühen Abend standen hier Hall-of-Fame-Legenden des US-amerikanischen Rock vor ausverkauftem Rund auf der Waldbühne: Bei Kaiserwetter spielten mit Pearl Jam die Könige des Grunge mit ihrem charismatischen Sänger Eddie Vedder.
Coronabedingt war das Konzert schon zwei Mal verschoben worden, gestern klappte es endlich, die Fans waren also schon im dritten Anlauf mehr als bereit, die letzten noch aktiven Erfinder des „Grunge“-Sounds aus Seattle live in Berlin zu erleben. Wer sich informieren will, was Grunge ist, dem sei hier ausnahmsweise Wikipedia empfohlen, die Zusammenfassung ist wirklich lesenswert.
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Aber steigen wir direkt ins Konzert ein: Wer dabei war und bis dahin nicht genau wusste, was mit „wogende Menge“ gemeint ist, der konnte das hier insbesondere im Innenraum der Waldbühne leibhaftig erleben.
Die nach drei Jahrzehnten ergrauten Halbstarken der 1990er Jahre hatten ihre intensiven nostalgische Momente, die sich gestern Abend auf der Waldbühne erstaunlich staubfrei anfühlten. Noch dazu, weil Pearl Jam hier auch einen nicht unerheblichen Anteil einer zweiten Fangeneration in die Waldbühne gelockt hatte: Fans, die nicht älter waren als der der Grunge selbst.
Die Waldbühne: Eine Inszenierung an diesem Ort hat immer das Potenzial für Gänsehaut. Denn wer die Waldbühne besucht und wem sich zum ersten Mal von oberhalb kommend der Blick auf die Bühne dieses Amphitheaters öffnet, vorbei noch an den mittelalterlich wirkenden Trink- und Fressbuden, hinunter auf die vollbesetzten bunten Ränge im Abendlicht, der wird von einer Erregung gepackt, die viel mehr ist als nur einer Begeisterung für persönliche Helden geschuldet.
Wir sind beim Grunge, bei Pearl Jam und Eddie Vedder in der Waldbühne. Die meisten der Zuschauer haben die Zeit der großen Jugenddepression schon durchlitten, überwunden und abgehakt. Der Soundtracks ihres Blues ist ihnen eingeschrieben als Grungerock aus Seattle. Und hier in der Waldbühne wird er zelebriert als Passion, ein Kirchgang, ein Gottesdienst.
Während die Roadies nach dem letzten Riff die Koffer packen, bleiben viele Zuschauer noch zusammen, wollen sich nicht trennen – der Abend ist in diesem Moment auch ein heiteres bis ehrfürchtiges Treffen der Überlebenden dieses 1990er-Drogenjahrzehnts.
Anderswo sitzen welche noch ergriffen zusammen, als hätten sie gemeinsam der Verkündigung der Evangelien gelauscht. Aber es war doch nur ein nostalgisches Rockkonzert, das hier gestandenen Männer und Frauen die Schleusen öffnete, kein Grund zum Grungekuscheln.
Einem Fan kommt tatsächlich bald das Wasser auf die Frage, wie es ihm gefallen hat. Und man weiß nicht, was hier überwiegt, das Selbstmitleid oder die ansteckende Begeisterung eines Eddie Vedders, der im Übrigen auf unverschämte Weise noch am wenigsten von den versammelten 22.000 Fans des Grunge gealtert scheint. Und jeder kann es sehen auf den beiden Großbildschirmen rechts und links der Bühne: Der Held des Abends in einer Festival-Freilicht-Atmosphäre.
Sänger Eddie Vedder war in den 1990ern mit seiner Introvertiertheit, versteckt hinter wallender Mähne, zweifellos der größte Frauenschwarm des Grunge. Aber es waren nicht die handzahmen, braven Mädchen, die sich in den tiefsinnigen Feingeist mit seiner rauen, immer etwas flüchtigen Stimme verliebten.
Amüsante Nebensächlichkeit: Wenn es 2022 an mancher Stelle so wirkte, als kämpfe Vedder mit den höheren Tönen, müsse da oben drücken und pressen, dann keine Sorge: Das war schon Anfang der 1990er so und wurde schnell zu seinem Markenzeichen.
Vor dreißig Jahren wurde Grunge auch zum Defibrillator des handgemachten Rock, der Langhaarigen, der headbangenden Vorstadtrocker, des exzessiven, nein, des gelangweilten Drogenkonsums und einer als attraktiv empfundenen Form eines stumpfsinnigen Pessimismus aus Punk-Attitüde versus einer verkünstelten Popkultur.
Der Spiegel schrieb 1992, damals, als das Magazin noch den einen oder anderen Qualitätsjournalisten beschäftigte, einen Satz, der schon wieder so grunge war, dass er auch von einem Plattencover aus Seattle hätte stammen können:
„Seattle ist nicht gerade der Ort, wo die Menschen nachts auf der Straße tanzen. Meistens bewegt sich nur dicker Nebel über den Asphalt. Und wenn es früher ab und zu etwas Rhythmisches zu hören gab, dann war daran der Regen schuld und sonst gar nichts.“
Der Kanadier Douglas Coupland schrieb mit "Generation X" den Roman der Generation Grunge:
„Die Eltern sind geschieden, in der Schule wird gekifft, der Fernseher läuft immer, und nach dem College gibt es keine Zukunft.“
Ein paar Jahre später wird der deutsche Feuilletonist Florian Illies mit „Generation Golf“ eine Art deutschen Gegenentwurf schreiben, der auch deshalb zum Bestseller wird, weil er das Wilde stilvoll einhegt und dem karierten Flanellhemd und der Cordhose noch Bügelfalten verpasst.
Ein Vortrag auf der Berliner Waldbühne wie aus einem Guss. Irgendwelche Längen gibt es keine, maximal der Sonnenuntergang und das unvermeidlich irgendwann nahende Ende der Veranstaltung bestimmen hier im dramatischen Sinne die Inszenierung.
Und dann ist es endlich so weit: Pearl Jam ist dort angekommen, wo der Ruhm vor dreißig Jahren begründet wurde: „Alive“, die erste Single der Band begründete den Weltruhm und wurde zur Hymne des Grunge schlechthin. Eine ganz persönliche Geschichte des Verlassenwerdens aus der Feder von Eddie Vedder über zerbrochene Familien, fehlende Zuneigung und Perspektivlosigkeit, ein Schrei nach Liebe: „I'm still alive!“
Aber dieser Abend ist hier noch nicht zu Ende: Erzählt werden muss auch, dass in der Waldbühne 22.000 Menschen ohne Maske ihren Pearl-Jam-Gottesdienst abhielten. Und man fragt sich unwillkürlich:
Wieviel Rebellion steckt eigentlich noch in diesen Alt-Grungern, die mutmaßlich zu einem ganz überwiegenden Teil Grüne oder mindestens Ampel-Sympathisanten sind?
Ergreifend an diesem Abend ist die ungeheure Kraft dieser Musik und der spürbare Geist der Freiheit und des Widerspruchs derer, die sie aufgeschrieben bzw. komponiert haben. Das ClassicRock-Magazin überschrieb ein Special so: „Grunge – Die dreckige Revolution“. Dort steht auch einer der vielleicht geeignetsten Sätze, das Phänomen Grunge zu erklären:
“Während Axl Rose und seine Crew die vergangenen Jahre damit verbracht haben, die Dollars in Stringtangas, Champagnerkübeln oder Einwegspritzen zu versenken, gibt es in Seattle zunächst nur Corn Dogs, Würstchen im Maisteigmantel.“
Ergreifend in der Waldbühne dreißig Jahre danach die ungebrochene Kraft dieser Musik. Bei näherer Betrachtung erschütternd hingegen ist die Erinnerungskultur der Fans. Dafür muss man sich nur die selbstgefällige Attitüde einiger Nostalgiker im Rund der Waldbühne vergegenwärtigten. Oder wie es Kurt Cobain, der Übervater des Grunge, formuliert hat:
„Here we are now, entertain us. I feel stupid and contagious. Here we are now, entertain us.“
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Kommentar von Frank Andree
Alex, hier hast Du für mich allerbesten Journalismus geliefert. Danke dafür.