Über einem Bild des Präsidenten, dass ihn – ja, doch – als eine Art Trottel darstellt mit Megafon und Duck-Face, hat der Focus folgende Headline setzen lassen:
„Der Furor des Präsidenten: Selenskyj lebt in der politischen Eindimensionalität“
Unabhängig davon, inwieweit das der Wahrheit nahekommt, sind das ungewöhnlich neue Töne aus dem politisch-medialen Milieu in Deutschland. Dazu aber gleich mehr.
Zunächst zur Frage, wie Steingart seine Schlagzeile begründet. Der Journalist stellt fest, dass sich das Stimmungsbild in Deutschland gedreht hätte. Und das verwundert auch Steingart, denn bisher hätte Selenskyj seine „Ukraine-First-Politik“ weitgehend ungefiltert in die Nachrichtenkanäle „fluten“ lassen. Was nicht weniger bedeutet, als dass die deutschen Medien bisher ungehindert verbreitet haben, was der ukrainische Präsident ihnen ins Megafon gepustet hat (siehe Focus-Titelbild).
An der Stelle schnell ein Blick ins Twitter, ob Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland schon eine Fatwa ausgesprochen hat über Gabor Steingart und den Focus … Nein, bisher nur die üblichen Deutschland-Beschimpfungen und eine Aufforderung an den Bundeskanzler – übersetzt -, gefälligst die Klappe zu halten und zu liefern, was verlangt wird.
Steingart schickt Sätze hinaus in die Welt, die bei vielen Haltungsjournalisten bis tief hinein in die (müssen wir schon „ehemaligen“ sagen?) Alternativen Medien wie schallende Ohrfeigen wirken müssen:
„Jede Zeit hat ihre Geister und der Zeitgeist unserer Zeit sieht aus wie Wolodymyr Selenskyj. Er ist Präsident der Ukraine und der wirkungsmächtigste Influencer der Gegenwart.“
Man darf, aber muss Steingart nicht mögen. Es reicht vollkommen anzuerkennen, dass der Mann zu den wenigen Journalisten in Deutschland gehört, die noch eine untrügliche Nase dafür haben, wie die Stimmung am Kiosk und auf den Sportplätzen aussieht. Steingart schaut dem Volk aufs Maul und fasst es in Worte. Ein bisweilen vielleicht berufsbedingter Populismus, um den sich beispielsweise ein Julian Reichelt oder Jan Fleischhauer bemühen, aber damit doch so oft im sprichwörtlichen Näpfchen landen: weich und fettig.
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Dabei spricht Steingart nur aus, was als rosa Elefant längst die ganze Zeit im Raum steht. Was für ein Spagat muss das für viele seiner „Kollegen“ sein, diesem Koloss an Wahrheiten immer wieder ausweichen oder ihn gar wider besseres Wissen leugnen zu müssen. Gabor Steingart schreibt:
„Selenskyj betreibt nichts Geringeres als die Mobilmachung des Westens. Ohne Unterlass fordert er für sein Land neue Milliarden und schwere Waffen. Dabei sind seine Worte die schwerste Waffe, die er in diesem ungleichen Gefecht ins Feld führen kann.“
Das klingt fast noch harmlos, finden Sie? Dann lesen Sie bitte weiter im Focus-Kommentar, was da über Selenskyj geschrieben steht und was im Moment des Lesens sofort bei so vielen mit einem Kopfnicken einhergehen muss:
„Er ist vorsätzlich undifferenziert. Und er schießt scharf auf jeden, der seine Meinung nicht teilt. Der Zeitgeist hat in ihm als Poltergeist seinen Auftritt. Er sagt Sätze, die man vor wenigen Monaten noch als Relativierung der Nazi-Zeit angeprangert hätte.“
Selbstverständlich drückt sich Steingart auch nicht an Andrij Melynik vorbei, er nimmt ihn volley. Dessen Geschrei fasst der Journalist so zusammen:
„Putin wolle ‚die Endlösung in Bezug auf die ukrainische Frage‘. Putin werde erst aufhören, ‚wenn er Berlin erreicht hat‘. Putin wolle den Genozid. Putin sei schlimmer als Hitler, ‚denn seine Zielsetzung ist noch perfider als die von Hitler‘, sagt der nach Berlin entsandte Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk.“
Und weiter über Selenskyj: Der setze die Entspannungspolitik von Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder und Merkel mit der Appeasement-Politik des britischen Premiers Chamberlain gleich.
Dieser Gabor Steingart ist hier tatsächlich auf so etwas wie einer Anhöhe des journalistischen Arbeitens angekommen. Dort, wo die Luft schon dünner wird. Aber wohl auch nur deshalb, weil viele Kollegen in der Ukrainefrage aufgehört haben, zu denken und also zu arbeiten. Steingart schreibt:
„In seinem Furor unterschlägt Selenskyj, dass die deutsche Entspannungspolitik in letzter Instanz zum Fall der Mauer, zur Auflösung der Sowjetunion und zur Wiedervereinigung in Deutschland geführt hat, derweil die Besänftigungspolitik des britischen Premiers den Aufstieg Hitlers begünstigte. Oder anders gesagt: Selenskyj versucht, den Apfel als Birne zu verkaufen, was ihm derzeit gut gelingt.“
Steingart vergleicht Selenskyjs Methode mit der von Donald Trumps „America First“ und schaut dann auf die Reaktionen darauf: Wo bei Trump die Nase gerümpft wurde, würde „im Fall von Selenskyj gerade diese Einseitigkeit als Akt des Widerstandes gefeiert. In beiden Fällen geht es um die ideologische Überhöhung.“
Nun gut, etwas ist hier natürlich nicht zu vergleichen: Die Ukraine befindet sich im Krieg, Trump musste keinen Einmarsch der Russen befürchten. Trumps Furcht speiste sich aus einem immer aggressiveren Auftreten linksradikaler innerer Feinde Amerikas.
Für Steingart ist Selinskyj schuld daran, dass Putins Krieg nicht nur geographische, sondern auch ethische Grenzen verschoben hat. Bundeskanzler Olaf Scholz wird vom Journalisten dringend aufgefordert, „gegenüber dem ukrainischen Präsidenten die realpolitisch gebotene Grenzziehung vorzunehmen“.
Und dann schreibt Steingart einen Absatz, den sich die Komfortjournalisten längst selbst oder dem Gegenüber in Blockwart-Mentalität aus dem Vokabular gestrichen haben:
„Die Interessen der Ukraine sind eben nicht die Interessen der Deutschen: Die Bundesrepublik unterstützt den Freiheitskampf der bedrängten Ukrainer, aber sie führt keinen Krieg gegen Russland. (…) Wir wollen helfen, Putins Armee zurückzudrängen, aber nicht Russland in die ökonomische Steinzeit katapultieren. Wir können nur den begrenzten Krieg riskieren, aber niemals den totalen Krieg wollen.“
Selenskyj sei nicht einmal ein echter Ukrainer, deutet Steingart an, denn seine „Communities auf Twitter, Instagram und Facebook sind seine natürlichen Siedlungsgebiete“. Wer sich allerdings über das Nazi-Vokabular des ukrainischen Präsidenten aufregt, der sollte den Begriff „Siedlungsgebiete“ hier nicht einführen, so verlockend das für Steingart auch gewesen sein mag.
Scholz dürfe, so der abschließende Rat des Journalisten, Selenskyj nicht in seiner eifernden Totalität folgen. „Er muss auf seiner Souveränität bestehen. Oder in der gebotenen Deutlichkeit gesagt: Berlin ist kein Vorort von Kiew.“
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Kommentar von Karl Holzer
danke für den Artikel ! Ich habe schon befürchtet alle Politiker und alle Journalisten Deutschlands stünden unter Hypnose, weil sie nur gegen Russland wettern, Waffen für die Ukraine fordern und alle Russen verteufeln. Ähnlich muss es gewesen sein, als die meisten Deutschen Hitler zujubelten. Höchste Zeit, dass einige versuchen, ihr Gehirn wieder einzuschalten.