Deutschland 2022: Schlafwandlerisch und mit vollem Bauch mitten hinein ins kollektive Frieren

Olaf Scholz: Wollt ihr die totale Zeitenwende?

von Alexander Wallasch (Kommentare: 3)

Der auffälligste Unterschied zu 1913 besteht darin, dass die Zeitenwende heute erklärtes Ziel der politischen Entscheider ist, dass sie bewusst herbeigeführt wurde, dass das prognostizierte kommende Elend der Deutschen als Kollateralschaden bereits eingeplant ist.© Quelle: YouTube, Screenshot DW Deutsch, Welt I Montage Alexander Wallasch

„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies wurde einhundert Jahre nach 1913 zum Megabestseller. Dem Autor war die Wiederbelebung der Geschichte aus den Tiefen biografischer Erfahrungen gelungen.

Es sind die Biografien der deutschen Avantgarde, die Illies interessieren. Ein Hochamt der Hochkultur. Heute käme man kaum drauf, welche Protagonisten in einhundert Jahren in einem fiktiven Buch über das Jahr „2022“ analog dazu vorgesellt werden könnten.

Die Autorin Julia Zeh etwa? Der Philosoph Rüdiger Safranski oder gar Richard David Precht? Oder doch die düsteren Gestalten, die Verstoßenen, Ballweg, Kubitschek und Co? Sind sie die Objekte der Begierde der Literatur einhundert Jahre später? Sie wären es wohl gerne.

Wir Nachgeborenen haben 1913 als „Vorboten“ zu sehen gelernt. Vorboten der Krisen, der Konflikte, der verheerenden Kriege, die das Gesicht Europas und seiner Wertvorstellungen für immer verändern sollten. Eine Zeitenwende.

Konstantin Sakkas schrieb einhundert Jahre danach für den Cicero über das Jahr 1913:

„1913 schließt sich das Tor zur Vergangenheit Alt-Europas und öffnet sich zugleich die Tür zu einer neuen Zeit – es ist das Jahr, in dem sich zwei Epochen in finaler Verdichtung berühren.“


Seine Überschrift lautet damals: „Zeitenwende 1913 - Das Geburtsjahr der Moderne“.

Aber was kommt nach der Moderne? Diese Frage soll man sich jetzt stellen, wenn es nach Bundeskanzler Olaf Scholz geht, der nämlich sprach Anfang 2022 unter dem Eindruck des russischen Einmarsches in die Ukraine wieder von einer „Zeitenwende“.

Später präzisierte Scholz seine vielzitierte Formulierung:

„Die Zeitenwende war nie nur eine Zustandsbeschreibung. Aus ihr ergibt sich ein Handlungsauftrag an unser Land, an Europa, an die internationale Gemeinschaft.“

Der Unterschied ist klar: Vor über einhundert Jahren bestimmten die Ereignisse die Zeitenwende, heute sollen die finalen Ereignisse auf die proklamierte Zeitenwende erst noch folgen. Olaf Scholz hat zwischenzeitlich gut beobachtet, dass der Ukraine-Russland-Krieg für seine Zeitenwende wohl doch noch nicht ausreicht.

Zeitenwenden sind für die meisten Zeitgenossen schmerzhafte Umwälzungen. Wenn aber Politik eine Zeitenwende ankündigt, bevor sie real passiert, dann ist sich Politik ihres Versagens bewusst. Sie erkennt, dass die politischen Maßnahmen, die sie zuvor ergriffen hat, folgenschwer sein werden. Sie ist sich darüber im Klaren, es nicht geschafft zu haben, Schaden vom Volk abzuwenden.

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Aber es kommt 2022 noch etwas Entscheidendes dazu: Der Ukrainekrieg ist in seinen sich heute zeigenden Eskalationsstufen über uns gekommen wie ein Naturereignis. Diesen Krieg zum Anlass zu nehmen, von einer „Zeitenwende“ zu sprechen, wirkt bei genauerer Betrachtung wie ein Taschenspielertrick.

Die tatsächliche Zeitenwende ist nämlich keineswegs wie der Einschlag eines Kometen über das Land gekommen und hat für das Aussterben der deutschen Wertedinosaurier gesorgt:

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die illegale Massenzuwanderung ausgerufen und damit die Souveränität der Grenzen kurzerhand abgeräumt mit der Aussage, 3.000 Kilometer deutsche Grenzen könne man nicht schützen. Die Welt brachte beide Ereignisse in einer Schlagzeile zusammen: „2011, 2015, 2022 – Die seltsame Radikalität der deutschen Politik“.

Energisch widersprach im Oktober 2015 Merkels Parteifreund Rupert Scholz. Der Tagesspiegel fragte den Verfassungsrechtler nämlich:

„Gibt ein Staat seine Staatlichkeit auf, wenn er seine Grenzen nicht mehr unter Kontrolle hat?“

Und Rupert Scholz antwortete der Zeitung:

„In einem gewissen Sinne ist das so. Zu einem Staat gehört wesensgemäß Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsregierung. Das sind die drei Elemente, die einen Staat ausmachen und auch auszeichnen. Staatsgebiet ist definiert durch Grenzhoheit. Wenn ein Staat seine Grenzen aufgibt, gibt er ein Stück der eigenen Staatlichkeit insgesamt auf.“

Nur wenig später (2018) – unter relevanter deutscher Zuarbeit – wurden die Flucht- und Migrationspläne der Vereinten Nationen in Marokko verabschiedet. Unter dem Radar der europäischen Bevölkerungen ausgearbeitet, sorgte der polit-mediale Komplex in den letzten Wochen vor seiner Verabschiedung dafür, dass spät aufwallende Kritik sofort als rechtsradikal diffamiert wurde.

Zunächst hieß es zwar, die Pläne wären ein "rechtlich nicht bindender Kooperationsrahmen", der die Souveränität der unterzeichnenden Staaten nicht antasten würde. Das passierte allerdings sehr wohl, als zunehmend Teile dieser Pläne Einzug ins europäische Recht fanden, die UN-Flucht- und Migrationspläne als Blaupause nutzten.

Nicht zu vergessen ein als Klimakatastrophe proklamierter Klimawandel, der ebenfalls zunächst über internationale Willensbekundungen festgezurrt und später in den Parlamenten umgesetzt wurde. Der polit-mediale Komplex erledigte den Rest.

Und damit sind wir noch gar nicht bei der Pandemie und diesem ersten Durchlauf der Idee einer politisch angeordneten Einschränkung der Grundrechte auf Dauer angekommen. Aber längst stehen Ideen im Raum, die Grundrechte auch unter anderen Bedingungen (Klimawandel) einzuschränken als nur unter pandemischen Maßnahmen. Corona war die Generalprobe.

Wo also Olaf Scholz im Angesicht des Ukrainekrieges eine Zeitenwende ausruft, ist sie längst auf den Weg gebracht. Bei Scholz klingt es deshalb viel mehr nach der Frage: „Wollt ihr die totale Zeitenwende?“

Zurück ins Jahr 1913: Schon wenige Monate später zogen junge deutsche Männer begeistert in den Krieg, auf dem Weg, Helden zu werden. Helden, wie ihre Väter 1871/72 im deutsch-französischen Krieg, der damals auf deutscher Seite weniger Opfer forderte, als heute bereits im russisch-ukrainischen Krieg gefallen sind.

Die jungen Männer zogen 1914 begeistert in einen Krieg und landeten auf Jahre in der Hölle der Verwesung ihres Schützengrabens.

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Eine naive Form der Sehnsucht nach Heldentum und Waffengang, durchaus vergleichbar mit dem gegenwärtigem Geschrei nach noch mehr Waffen für die Ukraine, versus eine Lösung am Verhandlungstisch, die aber zwangsläufig irgendwann nötig sein wird.

Verbleibende Frage hier: Wie viele tote Soldaten und Zivilisten später?

1913 gab es keine einflussreichen Hellseher, keine Glaskugelgucker.

Florian Illies schreibt:

„September 1913: Hugo von Hofmannsthal liegt in seinem Hotelbett im Vier Jahreszeiten in München und wacht aus einem Albtraum auf. Die Sonne scheint bereits grell ins Zimmer. Er geht benommen in den Englischen Garten, um sich von seinem Alb zu erholen. Es sind erst wenige Leute unterwegs. Warm scheint die Herbstsonne über die Bäume.“

Und wie schlafwandlerisch schauen 2022 die Deutschen einer ungewissen Zukunft entgegen? Wird alles noch einmal gut oder werden wir satt erfrieren?

Der Marken-Discounter Kaufland hat nach und nach Real-Markt übernommen. Diese Realmärkte zeichnete gegenüber den Mitbewerbern ein üppiges Platzangebot aus, dass jetzt von den eng gepackten Kauflandmärkten dankbar angenommen wurde.

Auch das Personal wurde verjüngt, die Real-Markt-Damen waren oft ältere Semester, betriebsrechtlich abgesichert und seit Jahrzehnten fest angestellt. Die Überalterung der Deutschen wird hier sinnbildlich in einem Realkauf-Pausenraum abgebildet.

Der Gang durch diese nun von Kaufland besetzten Real-Märkte zeigt am aufgefächerten Warensortiment noch eindringlicher die Dekadenz unserer Zeit.

Allein die Regale mit den glutenfreien Produkten sind meterlang. Und wer eine bestimmte Nudelsoße kaufen will, kann hier gut und gerne mit dem Elektroroller an den Regalen vorbeifahren und dabei noch zwei, drei Strophen „La Paloma“ pfeifen.

Während dieser Rollerfahrt allerdings spricht die Regierung Warnungen aus, dass bald das große Frieren kommt, weil Putin uns das Gas abstellt. Und sollte wider Erwarten doch noch Gas ankommen, so heißt es, dann zu einem Vielfachen des im europäischen Vergleich schon hohen deutschen Gaspreises.

Vom Gaspreis nochmal zur Literatur: Der Historiker Christopher Clark schrieb im selben Jahr wie Illies seinen Bestseller „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.“

Clark schreibt hier, die Zeit vor dem ersten Weltkrieg sei geprägt gewesen von einem Männlichkeitswahn, von Provokation und Imponiergehabe.

Von was ist unsere Zeit geprägt, was sind die Begleitumstände der vom polit-medialen Komplex ganz bewusst herbeigeführten Zeitenwende?

Unsere Zeit ist geprägt von einer großen Hysterie, hinter der gerade alles in Frage gestellt wird, was gestern noch Common Sense war, also per Definition, was allgemein geteilter Verstand des Menschen ist.

Der wohl auffälligste Unterschied zu 1913 besteht darin, dass die Zeitenwende heute erklärtes Ziel der politischen Entscheider ist, dass sie bewusst herbeigeführt wurde, dass das prognostizierte kommende Elend der Deutschen als Kollateralschaden bereits eingeplant ist:

Die zerstörerische Ideologie soll langfristig angelegt werden, der Spuk wird dieses Mal nicht mit dem großen Knall vorbei sein, der Knall selbst ist Finale der Vollendung einer ideologisch verordneten neuen Unfreiheit.

„Das ist die Sehnsucht: Wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit.“

Rainer Maria Rilke

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