Deutschland zieht in den Krieg … irgendwie, irgendwann, irgendwo …

Bundeskanzler ruft waffenstarrende „Zeitenwende“ aus

von Alexander Wallasch

Wenn es ihn je gegeben haben sollte, ist ein pazifistischer deutsche Sonderweg seit heute Geschichte: Die Bundeswehr soll mit zunächst einhundert Milliarden Euro kriegstauglich gerüstet werden.© Quelle: © Bildmontage: YouTube Screenshot / WELT Nachrichtensender

Der Bundestag tritt zum ersten Mal in seiner Geschichte an einem Sonntag zusammen. Der Bundeskanzler tritt für eine Regierungserklärung ans Rednerpult. Anlass ist die Invasion Russlands in der Ukraine. Anschließend soll eine zweistündige Debatte folgen.

Am Tag zuvor waren russische Banken vom Swift-System ausgeschlossen worden, der deutsche Luftraum wurde für russische Maschinen gesperrt, und Bundeskanzler Olaf Scholz erlaubte deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine.

Letzteres ist insoweit von besonderer Bedeutung, weil damit zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder direkt deutsche Waffen im deutschen Auftrag gegen die russische Armee eingesetzt werden können. Dafür muss es mehr als einen gewichtigen Grund geben. Im Internet tauchen erste Bilder von polizeibegleiteten Militärtransporten auf deutschen Autobahnen Richtung Osten auf.

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Agnieszka Brugger, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, spricht im Vorfeld der Regierungserklärung in die Fernsehkameras, dass das ukrainische Volk sich mit Waffen schützen müsse. Die Fraktionsvorsitzenden der Union, der SPD und der FDP erklären, dass jetzt die Bundeswehr neu ausgestattet werden müsse. Der Bundeskanzler sprach gestern von einer Zeitenwende. Brugger spricht von einem „brutalen Angriffskrieg auf unserem Kontinent“.

Auch die Grüne will jetzt den Verteidigungsetat erhöht sehen und die Landes- und Bündnisverteidigung verbessern. Johann Wadephul, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU, spricht gegenüber Phoenix wenige Minuten vor Beginn der Sitzung von einer Neuaufstellung der Bundeswehr. Aber wo es um die Aufnahme der Ukraine in die Nato oder/und die EU geht, sind die Vertreter der Ampelparteien weiter zögerlich.

Die Abgeordneten erwarten an diesem besonderen Sonntag die Regierungserklärung des Bundeskanzlers. So voll war das Plenum schon lange nicht mehr. Bundespräsident a.D. Gauck sitzt auf der Empore und wird von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) begrüßt, die dann kurz zusammenfasst, warum der Bundestag hier zusammengekommen ist.

Die Bundestagspräsidentin spricht zunächst von der Verletzung unverhandelbarer Prinzipien. Der Botschafter der Ukraine wird mit langanhaltenden Ovationen begrüßt, der Deutsche Bundestag steht geschlossen auf für Andrij Melnyk.

Anschließend wird die Zusammenkunft des Bundestages von Bärbel Bas als „historische Ausnahmesituation“ bezeichnet.

Dann tritt Olaf Scholz ans Rednerpult. Der 24. Februar 2022 markiere eine Zeitenwende, startet der Bundeskanzler. Scholz berichtet von den Sorgen der Menschen im Land und davon, dass viele Deutsche noch aus den Erzählungen der Eltern vom Schrecken des Krieges wüssten. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, so Olaf Scholz als Erläuterung seiner Rede von einer Zeitenwende mit Blick auf die russische Invasion.

Putin wolle, so Scholz, ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen und damit die europäische Sicherheitsordnung zertrümmern, „die nach der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte.“

Putin stelle sich damit „auch ins Abseits der gesamten internationalen Staatengemeinschaft“, so Scholz weiter. Diese Invasion sei ein „infamer Völkerrechtsbruch.“

Scholz dankt ausdrücklich Außenministerin Annalena Baerbock für ihren Einsatz, „dafür bin ich sehr dankbar.“. Dafür gibt es anhaltenden Applaus der Abgeordneten der Parteien der Ampelkoalition.

Russland habe lediglich mit eigenem Veto die Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat verhindert; „was für eine Schande“, kommentiert Olaf Scholz.

Olaf Scholz nennt fünf Handlungsaufträge, die nun vor Deutschland lägen:

Die Ukraine müsse, in der dieser verzweifelten Lage unterstützt werden, das habe Deutschland auch in den vergangenen Jahren in großem Umfang getan. Es gehe um den gemeinsamen Kampf von Europäern für die Demokratie. Neben den Ukrainern stehe Deutschland „auf der richtigen Seite der Geschichte“, so der Bundeskanzler.

Scholz spricht davon, dass Deutschland jetzt die richtige Antwort gegeben habe, als man gestern entschieden hätte, der Ukraine Waffen zu liefern gegen Russland, „auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben“, so Scholz weiter.

Putin müsse von seinen Kriegsplänen abgebracht werden, denn der Krieg werde sich auch als Katastrophe für Russland erweisen. Dafür sei ein Sanktionspaket „von bisher unbekanntem Ausmaß verabschiedet worden.“ Scholz zählt hier noch einmal die Sanktionsmaßnahmen auf.

Und Putin werde seinen Kurs nicht über Nacht ändern, aber schon jetzt hätten russische Börsenwerte über dreißig Prozent eingebüßt. Auch für weitere Sanktionen gebe es jetzt keine Denkverbote mehr. Nicht das russische Volk habe sich für den Krieg ausgesprochen, so der deutsche Bundeskanzler, „dieser Krieg ist Putins Krieg.“

Das Parlament steht ein weiteres Mal geschlossen auf. Dieses Mal für jene Russen, die in ihrem Land tapfer gegen die Kriegspläne protestiert hätten, wie es der Bundeskanzler erwähnte. Die AfD-Fraktion applaudiert zwar vereinzelt, aber die Abgeordneten der AfD bleiben als einzige im Parlament geschlossen sitzen. Die Linke steht auf gemeinsam mit den Ampelparteien und der Union.

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Die dritte Herausforderung sei es, dass der Krieg nicht auf andere Länder übergehen dürfe, so Scholz. Deutschland stehe „ohne Wenn und Aber“ zur Nato. Jeder Quadratzentimeter des Bündnisgebietes sei zu verteidigen.

Die fehlende Einsatzfähigkeit der Bundeswehr dürfte diesen ambitionierten Plänen allerdings massiv im Wege stehen. Scholz dankt anschließend der Bundesverteidigungsministerin, für sie rührt sich im Plenum allerdings keine einzige Hand, der Applaus bleibt geschlossen aus.

Scholz wiederholt in seiner Regierungserklärung mehrfach den Begriff der „Zeitenwende“.

Die Bundeswehr brauche „neue Fähigkeiten“, so der Bundeskanzler. Scholz berichtet davon, dass er in stundenlangen Gesprächen mit Putin erkannt habe, dass dieser ein Imperium errichten und Europa neu ordnen wolle, auch mit militärischer Gewalt.

„Welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in Zukunft?“, fragt Scholz. Antwort: Es müsse jetzt mehr in die Sicherheit Deutschlands investiert werden.

Scholz will eine „hochmoderne, leistungsfähige Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt.“ Vereinzelndes höhnisches Gelächter aus den Reihen der AfD. Scholz unbeirrt weiter: „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen ...“ noch lauteres Gelächter.

Die Ampel will also massiv aufrüsten. Und Olaf Scholz will dafür ein „Sondervermögen Bundeswehr“ einrichten mit einem Budget von „einhundert Milliarden Euro“.

Dafür folgt der Dank für seine Unterstützung an Finanzminister Christian Lindner, fast, als wäre es dessen Privatvermögen, möchte man meinen.

Aber ist es vorstellbar, dass dieses Geld noch unter einer Verteidigungsministerin Lambrecht (SPD) ausgegeben werden könnte? Es sollen nun mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Verteidigung investiert werden – dafür anhaltender Applaus, einzelne Abgeordnete stehen dafür sogar wieder auf.

Scholz appelliert weiter, dieses Sondervermögen im Grundgesetz abzusichern. Es ist tatsächlich gespenstisch, wie hier unter den Beifall großer Teile des Plenums wieder deutsche Waffen geschmiedet werden. Allerdings gehört auch zur Wahrheit dazu: Schon unter US-Präsident Trump wurden diese zwei Prozent eingefordert, die Deutschland längst zugesagt hatte, jährlich in die Bundeswehr zu investieren.

Unter dem Jubel vieler Abgeordneten wird von neuen Panzern, Drohnen und Flugzeugen gesprochen – die Zeitenwende erscheint in diesem Moment im Deutschen Bundestag vor allem als eine waffenstarrende.

Olaf Scholz spricht im Folgenden auch die Energiewende an, die Abhängigkeit von einzelnen Energielieferanten müsse überwunden werden – klar ist hier Putins Gas gemeint. Aber werden die Grünen einer neuen deutschen Atomenergie zustimmen? Oder haben sie schon? Nein, Scholz will weiter auf den Ausbau erneuerbarer Energien setzen: „Je schneller, desto besser“. Bis 2045 soll das Land CO2 neutral werden, so der Bundeskanzler.

Es folgt der Dank an Minister Robert Habeck. Was für eine seltsame Inszenierung ist das eigentlich, dass Scholz hier jeden einzelnen Minister abfeiern lässt? Ist dieser besondere Sonntag dafür wirklich angemessen? Applaus natürlich auch für Habeck. Der fehlende Applaus für die Verteidigungsministerin wird immer lauter.

„Die Zeitenwende trifft nicht nur unser Land, sie trifft ganz Europa“, Scholz lässt nicht locker, nach der „großen Transformation“, dem „Great Reset“, etabliert er hier einmal mehr die „Zeitenwende“ als so etwas, wie einen neuen Fixstern deutscher Politik. Alles soll jetzt vom Kopf auf den Fuß gestellt werden, nichts darf mehr so sein, wie es einmal war?

„Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann, sondern zu fragen, was ist das Beste, was ist die beste Entscheidung für die Union?“, so Olaf Scholz mit allem Pathos, zu dem er fähig ist.

Als fünften und letzten Punkt nennt Scholz Putins Angriffskrieg als Zäsur für die deutsche Außenpolitik: „So viel Diplomatie, ohne naiv zu sein, dieser Anspruch bleibt“, so Scholz.

Das Parlamentsfernsehen blendet in diesem Moment die Außenministerin ein. „Nicht naiv zu sein bedeutet aber auch, nicht reden um des Reden willens“, so Scholz weiter, jetzt ohne dass Annalena Baerbock noch im Bild wäre.

Jedes Mal, wenn der Botschafter der Ukraine auf der Empore gezeigt wird, schreibt er an seinem Handy, in seiner Heimat wütet der Krieg, schreibt er mit Angehörigen? Die Rede von Scholz jedenfalls spielt für den Ukrainer offensichtlich gerade nur die zweite Geige. Das seltsam schale Pathos von Scholz dringt hier nicht durch.

Der Bundeskanzler beschwört am Ende seiner Erklärung noch einmal die Europäische Union. Was für ein denkwürdiger Tag, was für eine denkwürdige Rede. Der Bundeskanzler genießt den Applaus des Plenums. Aber was in diesem kurzen Moment fast ausschaut wie ein Tag des Sieges und der Freude, ist alles andere als das.

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