Es erscheint dabei schon wie ein Wunder, dass Wolodymyr Selenskyj überhaupt noch aus seiner umkämpften Hauptstadt vor den deutschen Abgeordneten sprechen kann. Auch deutsche Militärexperten hatten den Russen anfangs eine schnelle Eroberung der Ukraine vorausgesagt.
Gestern hatte der ukrainische Präsident schon vor dem US-Kongress gesprochen. Der deutsche Bundeskanzler aber hatte umgehend die in Washington geforderte Nato-Flugverbotszone über der Ukraine abgelehnt.
Einige ältere Deutsche wissen noch sehr genau, was die Bombardierung von Städten bedeutet oder haben es von ihren überlebenden Vorfahren erzählt bekommen. Aber eine Flugverbotszone über der Ukraine entspräche nach Meinung vieler Experten einer Kriegserklärung an Russland. Die Zeit jedenfalls schreibt dazu: „Eine Nato-Flugverbotszone über der Ukraine wäre in Wahrheit ein Krieg gegen Russland und Belarus.“
Die Sonderveranstaltung beginnt um neun Uhr und vor Eintritt in die Tagesordnung. Sevim Dagdelen, Abgeordnete der Linkspartei, wird im Vorfeld der Veranstaltung vom Phönix-Moderator rüde angegangen, weil sie sich im Interview für Friedensverhandlungen ausspricht und in weiteren Waffenlieferungen in die Ukraine keinen Sinn sieht.
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Der Phoenix-Mitarbeiter wird tatsächlich verbal übergriffig, Dagdelen besteht aber weiter darauf, dass eine Eskalation einen Weltkrieg auf europäischen Boden bedeuten würde.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll live sprechen, die Verbindung steht aber noch nicht. Andrij Melnyk, sein Botschafter in Deutschland, sitzt erneut auf der Empore des Bundestags wie schon bei der Regierungserklärung von Olaf Scholz zum Krieg in der Ukraine vor zwei Wochen.
Die Union wünschte als Oppositionspartei eine Debatte direkt nach der Rede Selenskyjs. Aber die Regierungsparteien haben das abgelehnt, so etwas wäre nach einer Gastrede bisher unüblich.
Der Grund für die Verzögerung der Übertragung wird genannt: Es hätte nahe des Aufenthaltsortes des ukrainischen Präsidenten einen Bombeneinschlag gegeben.
Die Vize-Bundestagspräsidentin Katrin Göring Eckardt leitet die Sitzung. Dann erscheint Selenskyj auf den beiden Bildschirmen im Plenarsaal rechts und links vom deutschen Adler.
Das Parlament steht geschlossen auf, auch die AfD ist dieses Mal dabei. Anhaltender Applaus. Der ukrainische Botschafter auf der Empore wird von der Vize-Bundestagspräsidentin begrüßt.
Göring-Ekardt erzählt vom berührenden Film eines ukrainischen Mädchens, das in einem Bunker sitzt und die Eisprinzessin singt. Bernd Baumann und andere Abgeordnete der AfD klatschen, als Göring-Eckardt Korridore für die Zivilisten fordert. Auch dieser Applaus von rechts wohl ein Novum.
Dann hat Selenskyj das Wort. Er wendet sich an die Regierenden und „an das ganze deutsche Volk“.
Und er beginnt damit, die Lage in der Ukraine zu beschreiben: „Russland bombardiert und zerstört unsere Städte.“ Tausende seien gestorben. 108 Kinder wären mitten in Europa im Jahr 2022 getötet worden. Der Präsident fordert mehr Sanktionen. Und er beklagt, dass immer noch so viele deutsche Unternehmen in Russland geblieben sind. Die Deutschen befänden sich wieder hinter der Mauer, kritisiert Selenskyj scharf.
Jede Entscheidung, die nicht getroffen wird, befeuere weiter den Krieg. Selenskyj erinnert daran, dass er schon früh gesagt hätte, dass Nord-Stream-2 eine Waffe ist, aber die Deutschen hätten beschwichtigt, dass so eben die Wirtschaft funktioniere. Und er kritisiert weiter, dass die Europäer immer noch zögerten, die Ukraine in die EU aufzunehmen.
Seine Übersetzerin spricht hochemotional, ihre Stimme überschlägt sich immer wieder. Wolodymyr Selenskyj wiederholt seine Metapher von der Mauer, die der Westen gegen sein Land aufgebaut hätte. Er wendet sich an alle Deutschen und erzählt von dem Leiden der Ukrainer beispielsweise im umkämpften und zerstörten Mariupol.
Sein Geburtshaus wäre zerstört, berichtet der Präsident. Und auch ein Schauspielhaus sei gesprengt worden. Er bittet eindringlich darum, die „Mauer“ doch zu verschieben. Dann erneuert er vor dem deutschen Parlament die Forderung nach einer Nato-Luftbrücke.
Selenskyj erinnert an den Überfall der deutschen Wehrmacht gegen die Ukraine. Und der Präsident kommentiert das anschließend so: „Und wieder versucht man in Europa, das ganze ukrainische Volk zu vernichten. Wir schlagen uns an dieser Mauer, wir kämpfen darum, das eigene Volk zu erhalten.“
Selenskyj dankt allen deutschen Bürgern für ihre Hilfe. Einfache Menschen, die einfachen Ukrainern helfen. Und er dankt auch den Journalisten, zumindest jenen, die fair berichteten. Er dankt jenen deutschen Unternehmern, die Moral über Wirtschaftlichkeit stellen.
Und dann noch einmal besonders eindringlich als Botschaft an die Deutschen: „Macht alles, damit ihr euch nicht schämen müsst nach diesem Krieg!“ Und noch einmal erinnert Selenskyj an den Angriff der Wehrmacht vor achtzig Jahren. Ein tatenloses Europa könne ohne die Ukraine nicht ihre Werte bewahren.
Der US-Präsident Ronald Reagan hätte in Berlin gesagt: Zerstört diese Mauer. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj knüpft dran an: „Ich bitte den Bundeskanzler darum, diese Mauer zu zerstören. Helfen sie uns, diesen Krieg zu stoppen.“
Nach etwa einer Viertelstunde ist die Ansprache Selenskyjs vorbei. Auf den Bildschirmen sieht man den ukrainischen Präsidenten aufstehen und nach rechts aus dem Bild entschwinden.
Noch einmal spricht Katrin Göring-Eckardt und bittet den Botschafter der Ukraine auf der Empore darum, ihm den Gruß des Parlaments auszurichten und Göring-Eckardt ruft dabei zu ihm hinauf: „Slava Ukraini“. Dann geht es zur Tagesordnung über, zwei Bundestagsabgeordnete bekommen Geburtstagsglückwünsche von der Vize-Präsidentin des Deutschen Bundestages.
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