Es gibt keinen günstigsten Moment für Verhandlungen

Keine Verhandlungen: Präsident Selenskyj setzt auf weitere Rückeroberungen

von Alexander Wallasch (Kommentare: 3)

Ein Sieg einer der beiden Kriegsparteien ist nicht möglich. Auch der Waffen liefernde Westen muss begreifen, dass dieser Konflikt nicht ohne Verhandlungen beendet werden kann.© Quelle: Pixabay / Alexandra_Koch

Die ukrainische Armee hat – mit tatkräftiger Unterstützung des Westens – Teile des von Russen eroberten ukrainischen Staatsgebietes zurückerobert. Es wurden Geländegewinne gemacht. Damit hatten auch viele westliche Militärexperten nicht gerechnet, vereinzelt war im Februar noch die Rede davon, dass Putin in wenigen Wochen die gesamte Ukraine erobern würde.

Es wird in den sozialen Medien viel darüber diskutiert, welche Geländegewinne genau erzielt wurden, einige sprechen gar von Propaganda. Aber Tatsache bleibt, dass der Ukraine ein Überraschungserfolg gelungen ist, ganz gleich wie und in welchem Umfang.


Das allerdings führt jetzt zu so etwas wie einem Paradoxon. Denn diese Erfolge stärken leider nicht etwa die Chance für Verhandlungen – man hätte ja annehmen können, dass die Ukraine eine günstigere Ausgangsposition wünscht, die jetzt näher gekommen wäre – nein, der ukrainische Präsident hat Gespräche und Verhandlungen mit Putin gerade rigoros abgelehnt.


Geht es Selenskij um so etwas wie die bedingungslose Kapitulation des übermächtigen Nachbarn? Die Welt zitiert den Präsidenten aus seiner täglichen Videoansprache:

„Vielleicht erscheint es irgendjemandem unter Ihnen so, dass nach einer Reihe von Siegen Stille eingetreten ist, doch das ist keine Stille.“

Selenskij verkündete in dem Zusammenhang gleich die nächsten militärischen Ziele der ukrainischen Armee: Man bereite sich aktuell auf eine Offensive vor, mit dem Ziel der Rückeroberung der ukrainischen Städte Mariupol, Melitopol und Cherson.

Langfristig, so der 44-jährige Präsident weiter, ginge es auch darum, die Separatistengebiete zurückzuerobern und die Krim zu befreien: „Denn die gesamte Ukraine muss frei sein.“


Nimmt man die Halbinsel Krim dazu (ca. 25 Tsd. Quadratkilometer), dann hält, so errechnete es die Welt, die russische Armee derzeit rund 125.000 Quadratkilometer ukrainischen Staatsgebietes besetzt.


Auch zu Verhandlungen mit Moskau hat sich Kiew explizit geäußert. Mychajlo Podoljak, externer Berater des Präsidenten, erklärte gegenüber ukrainischen Medien:

„Kurz gesagt, der Verhandlungsprozess an sich und ein persönliches Treffen der Präsidenten ergeben derzeit keinen Sinn.“

Podoljak hatte die Ukraine schon bei den Verhandlungen mit Russland kurz nach dem Überfall vertreten.

Und Podoljak nannte Gründe, warum es keine Verhandlungen/Gespräche mit Putin zum jetzigen Zeitpunkt geben wird:

Die bestehenden Geländegewinne Russlands dürften nicht Verhandlungsmasse sein, in einer Verhandlungspause würde Russland neue Angriffe vorbereiten und Russland müsse für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

Wann aber sind Verhandlungen möglich, diesen Krieg zu beenden? Kiew verlangt dafür den kompletten Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine. Außerdem müssten sich diese Verhandlungen ebenfalls mit der Höhe russischer Reparationszahlungen beschäftigen und mit der Herausgabe russischer Kriegsverbrechern.

Ist Putin als solcher auch gemeint? Die Chancen für Verhandlungen sind damit allerdings maximal gering. Währenddessen teilt die Pressestelle der ukrainischen Armee weitere Rückeroberungen und Geländegewinne mit.

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Bei all diesen militärischen Informationen muss berücksichtigt werden, dass es dafür keine wirklich verlässlichen Quellen gibt. Viel Stückwerk ist dabei, die Fachleute analysieren auch Videoaufnahmen aus den rückeroberten Gebieten. Dass die Ukraine allerdings umfangreiche Geländegewinne gemacht hat, scheint unbestritten.

Nicht vergessen darf man hier auch, dass Wolodymyr Selenskyj Verhandlungen mit Russland schon öfter, so auch am 22. August, eine Absage erteilt hat. Damals ging es darum, dass der Präsident Russland warnte, gefangengenommene Soldaten der Ukraine ausgerechnet am ukrainischen Unabhängigkeitstag vor Gericht zu stellen: „Das wird die Grenze sein, ab der keine Verhandlungen mehr möglich sind".

Fakt ist: Weitere tausende Soldaten und Zivilisten werden sterben, wenn dieser Krieg nicht endlich beendet wird. Über die Wahrscheinlichkeit eines Sieges der Ukraine wird gerade vermehrt spekuliert. Aber wo soll so ein Sieg enden? An der ukrainischen Grenze? Oder müsste die Ukraine mit Hilfe westlicher Waffenlieferungen und militärischer Beratung eine Pufferzone bis tief hinein in russisches Gebiet schaffen?

Laut UN-Berichten sind mittlerweile über elf Millionen Menschen aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen.

Gerhard Mangott, Russland-Experte und Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck, kommentierte im Mai das Scheitern der Verhandlungen so: Beide Seiten, die Ukraine und Russland, seien davon überzeugt, dass sie auf dem Schlachtfeld Erfolge erzielen und dadurch ihre Verhandlungsposition verbessern könnten.

Mangott kommentierte die Idee einer Rückeroberung der Krim durch die Ukraine so:

„Die Landbrücke von der Krim zum Donbass wird Russland nicht mehr aufgeben. Ein Verlust der Krim wäre ein militärisches Desaster. Wenn die Ukraine mit westlicher Unterstützung die Krim einzunehmen drohte, dann wird der Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe immer wahrscheinlicher.“

Die momentane Stille, so Präsident Selenskyj, sei die Ruhe vor dem Sturm. Auch für viele Experten ist es mittlerweile schwer auseinanderzuhalten, was hier militärische Stärke und was Propaganda ist.

Eine Gefahr besteht allerdings weiterhin: Nämlich jene, dass es auch im Westen Ermüdungserscheinungen geben könnte, wenn die Kriegshandlungen noch ewig so weiter gehen ohne jedwede Chance auf Verhandlungen. Das wiederum könnte Russland in die Hände spielen.

Jenseits jedweder Debatten um eine Vorgeschichte im russisch-ukrainischen Konflikt seit 2014 gilt aber weiterhin: Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Es gab keinerlei Pläne der Ukraine, in Russland einzumarschieren. Russland hatte 2014 die Krim annektiert, nachdem die pro-russische Regierung abgesetzt wurde.

Interessant ist, dass für Wikipedia – ausnahmsweise zitieren wir aus der Enzyklopädie – der Russisch-Ukrainische Krieg nicht erst im Februar 2022 begann, sondern bereits „Ende Februar 2014“. Damit bekommen jene Stimmen Recht, die immer wieder darauf verweisen, dass es bereits vor dem 24. Februar 2022 in diesem Konflikt 10.000 Kriegstote gab.

Dieses sinnlose Sterben auf beiden Seiten muss enden. Diese gigantischen Fluchtbewegungen müssen enden. Verhandlungen bleiben die einzige Möglichkeit. Ein Sieg einer der beiden Kriegsparteien ist nicht möglich. Auch der Waffen liefernde Westen muss begreifen, dass dieser Konflikt nicht ohne Verhandlungen beendet werden kann.

Ist hier ein Blick nach Zypern interessant, wo es seit den 1970er Jahren eine UN-kontrollierte Pufferzone entlang einer Waffenstillstandslinie gibt, die immerhin 180 Kilometer lang ist und zeitweilig von 6.000 UN-Soldanten gesichert wurde?

Die russisch-ukrainische Grenze ist allerdings 2295 km lang. Damit dürfte auch diese Idee illusorisch sein, so man diese Pufferzone nicht auf die Grenze zu den Separatistengebieten beschränken kann.

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